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Wilhelm Raabe: „Der Lar – Eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte“

Am: | April 24, 2025

Wilhelm Raabes Roman Der Lar, verfasst zwischen November 1887 und Oktober 1888 und erstmals 1889 veröffentlicht, zählt zu den weniger bekannten Werken des Autors. Dennoch bietet dieser Text einen tiefen Einblick in Raabes literarisches Schaffen und reflektiert die gesellschaftlichen Strömungen des späten 19. Jahrhunderts.

Der Roman beginnt mit dem Tod des alten Professors Dr. Kohl, eines wenig bekannten Germanisten, der während der Arbeit an einer Abhandlung verstirbt. Sein Sohn, Paul Warnefried Kohl, steht nach dem Verlust beider Eltern mittellos da, da das Familienvermögen zur Begleichung von Schulden aufgebraucht wird. Ohne Hab und Gut trifft Paul auf Rosine Müller, eine junge Klavierlehrerin, die ebenfalls eine schwierige Vergangenheit hat. Zusammen mit dem Tierarzt a. D. Dr. Franz de Paula Schnarrwergk ziehen beide in dasselbe Mietshaus ein. Im Verlauf der Geschichte entwickelt sich eine Beziehung zwischen Paul und Rosine, die schließlich in einer Ehe mündet. Mit Unterstützung von Pauls Freund, dem Maler Bogislaus Blech, gelingt es dem Paar, wirtschaftliche Stabilität zu erlangen und eine Familie zu gründen.

Raabes Erzählstil in Der Lar ist geprägt von Ironie und einem feinen Gespür für die Absurditäten des Alltags. Der Erzähler kommentiert das Geschehen häufig mit einem Augenzwinkern und durchbricht gelegentlich die vierte Wand, indem er den Leser direkt anspricht. Ein Beispiel hierfür ist die Bemerkung: „Nach einer geraumen Weile, an diesem Abend oder vielleicht an einem andern – wir können das nicht so genau bestimmen, aber es kommt auch nicht viel darauf an…“ Diese narrative Technik verleiht dem Text eine gewisse Leichtigkeit und spiegelt Raabes spielerischen Umgang mit der Erzählstruktur wider.

Ein zentrales Motiv des Romans ist die Darstellung von Hausgöttern, den sogenannten Laren, die im Untertitel als „ganz wahre Laren- und Penaten-Geschichte“ angekündigt werden. Diese römischen Schutzgeister des Hauses symbolisieren im Kontext des Romans die Suche nach Heimat und familiärer Geborgenheit. Interessanterweise wird der Begriff „Lar“ im Text vielfältig interpretiert und mit verschiedenen Bildern wie Orang-Utan, Gorilla oder Pavian assoziiert, was die Mehrdeutigkeit und den ironischen Unterton des Werks unterstreicht.

Ein weiteres bemerkenswertes Element ist die subtile Thematisierung von Homosexualität durch die Figur des Bogislaus Blech. Seine Zuneigung zu Paul wird durch Kosenamen wie „liebe, süße, Herzens-Puppe“ deutlich, wobei Paul diese Annäherungen weder erwidert noch ausdrücklich zurückweist. Diese Darstellung kann als Anspielung auf zeitgenössische Diskussionen über Sexualität und gesellschaftliche Normen verstanden werden.

Wilhelm Raabes Der Lar entstand in einer Zeit des literarischen Realismus, einer Epoche, die sich durch die detaillierte und ungeschönte Darstellung der Wirklichkeit auszeichnet. Raabe, oft dem poetischen Realismus zugeordnet, verbindet in diesem Werk realistische Schilderungen mit humorvollen und ironischen Elementen. Im Vergleich zu anderen zeitgenössischen Werken, wie Theodor Fontanes Effi Briest (1895) oder Theodor Storms Der Schimmelreiter (1888), die beide ernste gesellschaftliche Themen behandeln, wirkt Der Lar leichter und verspielter, ohne jedoch auf Tiefgang zu verzichten.

Denken wir an das Genre des Bildungsromans, so könnte man zum Vergleich auch noch Gottfried Kellers Der grüne Heinrich (1854/55) heranziehen, in dem ebenfalls die Entwicklung eines jungen Mannes und seine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Erwartungen thematisiert werden. Während es Keller jedoch noch stärker um die Bildung (im weitesten Sinne) seines Protagonisten geht, konzentriert sich Raabe mehr auf die alltäglichen Herausforderungen und zwischenmenschlichen Beziehungen seiner Protagonisten.

Wilhelm Raabes Der Lar ist ein facettenreicher Roman, der durch seinen ironischen Erzählstil, die vielschichtigen Charaktere und die subtile Thematisierung gesellschaftlicher Fragen besticht. Obwohl er nicht zu den bekanntesten Werken Raabes zählt, bietet er doch einen tiefgehenden Einblick in die literarischen Strömungen und gesellschaftlichen Diskurse des späten 19. Jahrhunderts; so reflektiert der Roman zeitgenössische Fragen zu Liebe, Ehe, Partnerschaft, die Auswirkungen der kapitalistischen Marktmechanismen auf die Kunst oder auch die Veränderungen des Weltbildes durch technologischen Fortschritt und wissenschaftliche Erkenntnisse, wie den Darwinismus. Durch die Verbindung von realistischen Elementen mit humorvollen und ironischen Einschüben gelingt es Raabe, ein lebendiges Bild seiner Zeit zu zeichnen und den Leser zum Nachdenken über universelle Themen wie Heimat, Identität und zwischenmenschliche Beziehungen anzuregen.

Der Herausgeber Moritz Baßler liefert der geneigten Leserschaft in seinem Nachwort die passende literaturgeschichtliche Einordnung der Werke von Wilhelm Raabe, der ja nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein erfolgreicher Maler und Zeichner war. Raabes literarisches Schaffen stammt aus der Zeit des programmatischen Realismus, dessen formalen Regeln sich Raabe aber widersetzte; dadurch lebte und arbeitete er immer auch in einem Spannungsverhältnis zu seinem Lesepublikum und dessen Erwartungen. Da auch die historische Bewertung schwankte, gerieten auch manch unbekanntere Titel aus dem Oeuvre in Vergessenheit. Dem Wallstein-Verlag ist es zu verdanken, dass nun Der Lar nach langer Zeit endlich wieder im Druck erhältlich ist!

 

 

Autor: Wilhelm Raabe
Titel: „Der Lar – Eine Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und Neujahrsgeschichte“
Herausgeber: Wallstein Verlag
Gebundene Ausgabe: 286 Seiten
ISBN-10: 3835355465
ISBN-13: 978-3835355460

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