Hans-Erhard Lessing: „Das Fahrrad – Eine Kulturgeschichte“
Am: | April 19, 2025
Hans-Erhard Lessings Das Fahrrad – Eine Kulturgeschichte ist weit mehr als ein technikhistorisches Sachbuch. Es ist ein kulturelles Panorama, das von den frühesten Anfängen menschlicher Mobilitätsideen bis in unsere Gegenwart reicht. Lessing schildert die Geschichte des Fahrrads nicht nur als eine der technischen Innovation, sondern als ein gesellschaftliches Phänomen, das tief in unsere Alltagskultur, unsere Städte, unsere Vorstellungen von Freiheit und Fortschritt eingreift. Dabei wählt er einen multiperspektivischen Zugang – und ergänzt die „harten Faken“ immer wieder mit einem wachen Auge für Anekdoten, Kuriositäten und prägende Persönlichkeiten.
Den Auftakt bildet, wie sollte es anders sein, Karl Drais und seine Laufmaschine. Lessing beschreibt nicht nur die technische Konstruktion dieses ersten, lenkbaren Zweirads, sondern bettet sie kenntnisreich in ihre historischen Umstände ein. Hier wird der Klimawandel des Jahres 1816 – das sogenannte „Jahr ohne Sommer“ nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora – als Katalysator technischer Innovation eingeführt. Drais, konfrontiert mit der Verknappung von Pferdefutter und Mobilitätsalternativen, entwickelte die Draisine als pragmatische wie visionäre Lösung. Lessing gelingt es, diese Episode plastisch zu schildern – mit dem Bild eines „reitenden“ Erfinders, der durch die Alleen Mannheims gleitet, die Aufmerksamkeit der Zeitgenossen auf sich zieht und dennoch im Schatten der Geschichte bleibt.
Der Autor verliert sich jedoch nicht in reiner Hagiografie. Er zeigt auch, wie schnell die erste Begeisterung für das neue Gefährt abebbte – das zunächst gefeierte „Veloziped“ wurde in einigen Städten wegen Gefährdung des öffentlichen Verkehrs sogar verboten. Dieser Rückschlag in der gesellschaftlichen Akzeptanz ist einer der Wendepunkte, den Lessing als typische „Technologie-Euphorie mit Rückschlägen“ beschreibt – ein Muster, das sich in der Technikgeschichte häufig wiederholt.
Ein weiterer eindrucksvoller Abschnitt ist der über das Hochrad, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Symbol sportlicher Männlichkeit und bürgerlicher Exklusivität wurde. Lessing schildert sehr anschaulich die „waghalsige Eleganz“ dieser Räder, deren überdimensionales Vorderrad Geschwindigkeit versprach, aber auch Sturzgefahr. Anhand zahlreicher Bildquellen und Zeitungszitate rekonstruiert er die Kultur des Hochradfahrens – etwa die ersten Rennen, bei denen elegante Herren in Sportanzügen wetteiferten, oder die Rolle der Hochradfahrer als frühe Avantgarde einer neuen Bewegungskultur.
Technisch waren die Hochräder eine Sackgasse – sie waren teuer, unsicher und kaum für die Massenproduktion geeignet. Doch Lessing erkennt ihren kulturellen Wert: Sie waren Ausdruck einer neuen Zeit, in der Geschwindigkeit, Individualismus und körperliche Ertüchtigung zentrale Werte wurden. Er verbindet diese Beobachtungen mit kulturgeschichtlichen Strömungen wie dem Sozialdarwinismus oder dem bürgerlichen Gesundheitskult – eine Stärke seines Ansatzes, der Technikgeschichte stets in größere geistige und soziale Kontexte einbettet.
Einen weiteren entscheidenden Wendepunkt markiert die Einführung des sogenannten „Sicherheitsniederrads“ in den 1880er-Jahren. Hier setzt Lessing auf technische Detailgenauigkeit – Kettenantrieb, gleich große Räder, Luftreifen – aber er verliert nie das große Bild aus dem Blick: Das Fahrrad wird nun massenfähig. Es wird billiger, stabiler und komfortabler. Jetzt beginnt jene Phase, in der das Fahrrad nicht mehr Sportgerät einer Elite ist, sondern Transportmittel der unteren und mittleren Klassen.
Hier brilliert das Buch mit einer Vielzahl historischer Dokumente – Werbeanzeigen, Patentschriften, Fotografien von Fabrikarbeitern auf dem Rad. Besonders beeindruckend ist Lessings Beschreibung der Rolle des Fahrrads in der Frauenbewegung. Die US-amerikanische Frauenrechtlerin Susan B. Anthony, zitiert im Buch, erklärt das Fahrrad zur „größten Freiheitsspenderin der Frau“. Lessing zeigt, wie Frauen mit dem Fahrrad nicht nur neue Mobilität, sondern auch neue Kleidung (Reformkleider, keine Korsette!) und neue Lebensformen eroberten. In diesen Passagen gelingt dem Autor eine faszinierende Verbindung von Technikgeschichte und Genderforschung.
Auch die dunkleren Kapitel der Fahrradgeschichte spart Lessing nicht aus. Er schildert die Rolle des Fahrrads in den Weltkriegen – als Truppentransporter, Kuriermittel, Fluchtfahrzeug. Besonders eindringlich ist seine Schilderung des „Volksfahrrads“ im Dritten Reich: eine standardisierte, reglementierte Mobilität für den kleinen Mann, vom NS-Regime gefördert, um soziale Kontrolle auszuüben. Diese Passagen zeugen vom kritischen Blick des Autors auf die politische Vereinnahmung technischer Innovationen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet das Fahrrad in Westeuropa zeitweise ins Abseits. Das Automobil wurde zum neuen Fetisch moderner Männlichkeit und Fortschrittlichkeit. Doch Lessing erzählt auch vom Überleben des Fahrrads in Ostdeutschland – als Notwendigkeit und Teil einer alternativen Alltagskultur – sowie vom kometenhaften Aufstieg des Fahrrads in Asien, wo es in China bis weit ins späte 20. Jahrhundert als Symbol für Modernität galt.
Hans-Erhard Lessing ist unzweifelhaft einer der führenden Technikhistoriker Deutschlands mit Schwerpunkt auf Mobilitätsgeschichte. Seine langjährige Forschungstätigkeit, seine Rolle als Kurator, sein Engagement in musealen und wissenschaftlichen Kontexten bürgen für Fachkenntnis. Besonders hervorzuheben ist seine Fähigkeit, technische Entwicklungen nicht isoliert zu betrachten, sondern in ihrer Wechselwirkung mit sozialen und kulturellen Dynamiken zu analysieren.
Die Auswahl der historischen Wendepunkte ist durchdacht und ausgewogen. Drais’ Erfindung, das Hochrad, das Sicherheitsniederrad, die Rolle des Fahrrads in der Frauenbewegung, seine Politisierung und schließlich die ökologische Wende – diese Etappen bilden nicht nur die technische, sondern auch die symbolische Entwicklung des Fahrrads ab. Sie machen plausibel, warum das Fahrrad nicht nur ein Fortbewegungsmittel, sondern ein kultureller Marker ist.
Dieses schöne und reich illustrierte Buch über die Kulturgeschichte des Fahrrads ist bereits 2017 erschienen und erreichte bereits mehrere Auflagen. Nun gibt es dieses tolle und informative Buch auch in einer preiswerteren Taschenbuch-Ausgabe.
Was allerdings angesichts des Erscheinungsjahrs (2017) schon etwas verwundert, ist die Tatsache, dass die Kultur- und Technikgeschichte des Fahrrads bei Lessing in den 1980er Jahren abbricht mit der Feststellung, dass „China immer noch als Fahrradland Nummer eins“ gilt. – Mal abgesehen davon, dass dies so pauschal aufgrund der rasanten Mobilitätsentwicklung gerade in China nicht mehr richtig ist, stellt sich die Frage, warum der Autor die technische Entwicklung des Fahrrads (E-Bike) und die Steigerung seiner kulturellen Bedeutung – gerade im urbanen Raum und angesichts der städtischen Mobilitätskonzepte – nicht weiterverfolgt hat?
Davon abgesehen, bietet dieses Buch einen schönen und umfassenden Überblick über die technische Entwicklung des Fahrrads und sein Einfluss auf Kultur und Gesellschaft i den letzten zweihundert Jahren. Lessings Schreibstil ist klar, verständlich und gelegentlich humorvoll. Trotz der immensen Materialfülle – das Buch ist reich an Abbildungen und Zitaten – verliert der Text nie seine Lesbarkeit. Lessing gelingt das Kunststück, sowohl Fachleute als auch Laien zu bedienen. Für interessierte Laien ist das Buch dank seiner Erzählfreude und seines stringenten Aufbaus ein Gewinn.
Hans-Erhard Lessing hat mit diesem Werk nicht nur ein Buch über Fahrräder geschrieben, sondern über die Menschen, die sie fahren, und die Gesellschaften, die sie dadurch formen. Wer dieses Buch liest, wird nie wieder achtlos an einem Fahrradständer vorbeigehen.
Autor: Hans-Erhard Lessing
Titel: „Das Fahrrad – Eine Kulturgeschichte“
Herausgeber: Klett-Cotta
Taschenbuch: 288 Seiten
ISBN-10: 3608988726
ISBN-13: 978-3608988727
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