Steffen Schroeder: „Der ewige Tanz“
Am: | April 15, 2025
Steffen Schroeders Roman Der ewige Tanz beginnt im Sommer des Jahres 1928. Anita Berber, die einst gefeierte Tänzerin und Ikone der Weimarer Republik, liegt geschwächt in einem Berliner Krankenhaus. Jetzt, wo es zu Ende geht, gezeichnet von Krankheit und den Exzessen ihrer Vergangenheit, lässt sie ihr bewegtes Leben Revue passieren. Erinnerungen an ihre Kindheit bei der geliebten Großmutter Lu, die ersten Tanzstunden und die Anfänge ihrer Karriere in Berlin werden lebendig. Steffen Schroeder zeichnet das Bild einer Frau, die früh den Weg auf die Bühne fand und sich mit Leidenschaft dem Tanz verschrieb. Die Begegnungen mit Persönlichkeiten wie Fritz Lang und Marlene Dietrich, die später ihren Stil kopierte, sowie der Maler Otto Dix, der sie porträtierte, werden in diesen Rückblicken thematisiert. Der Roman beleuchtet Anitas Streben nach künstlerischer Selbstverwirklichung und die Herausforderungen, denen sie sich in einer von Konventionen geprägten Gesellschaft gegenübersah.
Aber es werden auch die dunkleren Kapitel von Berbers Leben beleuchtet. Ihre Beziehungen, insbesondere die zu Sebastian Droste und Henri Châtin-Hofmann, sind geprägt von Leidenschaft, aber auch von Drogenkonsum und Skandalen. Die gemeinsamen Auftritte mit Droste, wie die berüchtigten „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“, sorgten für Aufsehen und führten zu gesellschaftlicher Ächtung.
Der Roman beschreibt eindringlich die Abwärtsspirale, in der sich Berber befand: der zunehmende Drogenkonsum, die finanziellen Schwierigkeiten und die gesundheitlichen Probleme, die schließlich zu ihrem frühen Tod führten. Trotz aller Widrigkeiten bleibt Berber in Schroeders Darstellung eine Frau, die unbeirrt ihren eigenen Weg ging und sich nicht den Normen ihrer Zeit unterwarf.
Anita Berber verkörpert wie kaum eine andere Figur die Ambivalenz der Weimarer Republik: eine Zeit des Aufbruchs, der künstlerischen Freiheit, aber auch der moralischen Zerrüttung. Ihr Leben und Wirken spiegeln die Spannungen dieser Epoche wider, in der traditionelle Werte auf radikale Neuerungen trafen. Sie war nicht nur eine Tänzerin, sondern eine Performerin, die ihren Körper als Ausdrucksmittel nutzte, um gesellschaftliche Tabus zu brechen und neue Formen der Kunst zu schaffen. Ihre Auftritte, oft nackt und provokativ, waren ein Affront gegen die bürgerliche Moral und ein Statement für Selbstbestimmung und künstlerische Freiheit.
Die Berliner Bohème der 1920er Jahre, in der Anita Berber eine zentrale Rolle spielte, war ein Schmelztiegel der Kreativität und des Exzesses. In den Kabaretts und Salons der Stadt trafen Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle aufeinander, um neue Ausdrucksformen zu erproben und die Grenzen des Erlaubten auszuloten. Berber bewegte sich in diesem Milieu mit einer Selbstverständlichkeit, die sowohl Bewunderung als auch Ablehnung hervorrief. Ihr exzessiver Lebensstil, geprägt von Alkohol, Drogen und wechselnden Liebhabern beiderlei Geschlechts, war Ausdruck eines radikalen Individualismus, der in der damaligen Gesellschaft seinesgleichen suchte.
In diesem Roman gelingt es dem Autor, diese komplexe Persönlichkeit in all ihren Facetten darzustellen. Er zeigt Anita Berber nicht nur als Skandalnudel, sondern als Künstlerin, die mit ihrem Schaffen die Konventionen ihrer Zeit herausforderte. Gleichzeitig wird deutlich, wie sehr sie unter den Zwängen und Erwartungen der Gesellschaft litt und wie ihr Streben nach Freiheit und Selbstverwirklichung letztlich in Selbstzerstörung mündete. Der Roman ist somit nicht nur eine Hommage an eine außergewöhnliche Frau, sondern auch eine kritische Auseinandersetzung mit den Widersprüchen der Weimarer Republik.
Steffen Schroeder ist ein Stilist von jener Art, wie sie selten geworden: einer, der zu erzählen versteht, ohne zu verführen, und der verführt, ohne zu lügen. Sein Ton ist durchdrungen von der Melancholie jener Zwischenzeit, in der Anita Berber lebte – weder weinerlich noch ironisch, sondern mit jener lakonischen Präzision, die das tragische Pathos des Verfalls mit kühler Eleganz schildert. Schroeder schreibt in einer Sprache, die stets auf Distanz bleibt und sich dennoch nahe an die Haut der Figur wagt – eine Sprache, die rau ist, wo das Leben rau war, glühend, wo die Ekstase wütete, und kristallin, wo der Tod sich ankündigt.
Er verzichtet auf Effekthascherei, dort, wo der Stoff selbst Sensation bietet – ein Zeichen wahrer Meisterschaft. Keine blumigen Metaphern, keine koketten Kunststücke; stattdessen ein elegischer Realismus, der mit feinen, manchmal fast filmischen Schnitten die Szenen aneinanderschmiegt. Ohne Übertreibung darf man konstatieren: Man fühlt sich oft an Egon Erwin Kisch erinnert, an dessen Reportagen aus dem innersten Kern der Moderne, oder an Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, dessen Fragmentierung und urbanes Stakkato Schroeder zwar nicht imitiert, aber atmosphärisch aufgreift.
Was Schroeders Sprache so bemerkenswert macht, ist der Umstand, dass sie das Innenleben seiner Protagonistin nicht erklärt, sondern tastend begleitet. Die innere Leere, die Anita Berber trotz allem Ruhm und aller Leidenschaft erfüllte, schimmert in der spröden Klarheit der Dialoge und in den seltsam entrückten Beschreibungen ihrer rauschhaften Tänze. Man meint, in diesen Passagen, durch das Dickicht des Textes, die Schatten von Else Lasker-Schülers Traumprosa wandern zu sehen.
Dabei ist der Roman stets gut gebaut. Der Wechsel zwischen der kranken, gealterten Anita und den Rückblenden in ihre wilden Jahre folgt keiner starren Chronologie, sondern wirkt wie das Erinnerungsnetz eines Morphium-geschwängerten Bewusstseins: brüchig, schillernd, fragmentarisch. Dieser Aufbau erinnert, in seiner Struktur und in der Weise, wie sich Leben und Mythos durchdringen, zuweilen an Lion Feuchtwangers Erfolg. Literarisch betrachtet steht Steffen Schroeder also in einer ehrwürdigen Reihe von Autoren, die sich dem Porträtieren der Zerrissenen verschrieben haben.
Es wäre indes ein Missverständnis, würde man Der ewige Tanz nur als ein „Biopic in Buchform“ lesen. Denn dieses Buch ist keine Hommage, kein Film ohne Kamera, sondern ein genuines literarisches Werk über das Leben einer Figur und ihrer ganz individuellen Weltordnung, die sich immerzu dreht zwischen Selbstauflösung und Selbsterschaffung. Ja, es ist das Leben der Anita Berber, von dem hier erzählt wird, aber es könnte genauso gut von einer fiktiven Figur erzählt werden, ohne dass der Text an emotionaler Kraft verlieren würde. Es handelt sich um ein bemerkens- und lesenswertes literarisches Werk und gehört zu den interessantesten literarischen Neuerscheinungen des Jahres 2025.
Der ewige Tanz ist ein fesselnder Roman, der sowohl historisch Interessierte als auch Liebhaber biografischer Literatur anspricht. Für Leserinnen und Leser, die sich für die kulturelle Blütezeit der 1920er Jahre, die Berliner Bohème und die Rolle der Frau in einer sich wandelnden Gesellschaft interessieren, bietet das Buch wertvolle Einblicke. Auch für Tanz- und Theaterbegeisterte, die die Entwicklung des Ausdruckstanzes und die Geschichte provokativer Bühnenkunst nachvollziehen möchten, ist Schroeders Werk eine lohnende Lektüre.
Nicht zuletzt bietet der Roman eine tiefgründige Charakterstudie einer Frau, die sich mutig gegen die Konventionen ihrer Zeit stellte und dafür einen hohen Preis zahlte. In einer Zeit, in der Fragen nach Identität, Selbstbestimmung und künstlerischer Freiheit wieder verstärkt diskutiert werden, ist Der ewige Tanz ein hochaktuelles Werk, das zum Nachdenken anregt und die Leserinnen und Leser auf eine faszinierende Reise in die Vergangenheit mitnimmt.
Autor: Steffen Schroeder
Titel: „Der ewige Tanz“
Herausgeber: Rowohlt Berlin
Gebundene Ausgabe: 304 Seiten
ISBN-10: 373710204X
ISBN-13: 978-3737102049
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