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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Wolfgang Benz: „Exil – Geschichte einer Vertreibung 1933-1945“

Am: | April 15, 2025

Wolfgang Benz, einer der renommiertesten deutschen Historiker der Gegenwart, legt mit Exil. Geschichte einer Vertreibung 1933–1945 ein umfassendes Werk vor, das sich der Geschichte der Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland widmet. Sein Buch ist eine eindrucksvolle Analyse eines bislang oft randständig behandelten Aspekts der NS-Zeit und beleuchtet mit großer Empathie und analytischer Schärfe die Schicksale von Menschen, die durch das NS-Regime zur Flucht gezwungen wurden. Auf rund 360 Seiten (plus Anhang) entfaltet Benz ein Panorama der Vertreibung, das sowohl die historischen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als auch individuelle Lebenswege beleuchtet. Dabei gelingt es ihm, das Exil nicht nur als politischen und geografischen, sondern auch als psychologischen und kulturellen Ausnahmezustand darzustellen.

Der Inhalt des Buches gliedert sich in mehrere Abschnitte, die unterschiedliche Aspekte des Exils thematisieren. Benz beginnt mit einer umfassenden Darstellung der politischen Entwicklung in Deutschland nach der Machtübernahme Hitlers im Jahr 1933. Bereits in den ersten Wochen nach der nationalsozialistischen Machtergreifung beginnt eine systematische Verfolgung politischer Gegner, insbesondere von Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftern. Bald darauf richtet sich die Repression gegen Juden, Intellektuelle, Künstler und andere als „undeutsch“ diffamierte Gruppen. Für viele Betroffene blieb als einziger Ausweg die Flucht ins Ausland.

Im nächsten Abschnitt widmet sich Benz der Organisation und Durchführung der Flucht. Er schildert eindrucksvoll die Schwierigkeiten, vor denen die Flüchtenden standen: Visabestimmungen, fehlende finanzielle Mittel, die Ungewissheit über Aufnahmeländer und die ständige Angst vor Auslieferung oder Internierung. Die Entscheidung zur Emigration war selten ein einmaliger, klarer Schritt, sondern meist ein langer, von Unsicherheit und Rückschlägen geprägter Prozess. Benz zeigt, wie kompliziert und kräftezehrend es war, überhaupt aus Deutschland herauszukommen und in einem anderen Land Fuß zu fassen.

Ein zentraler Bestandteil des Buches ist die Beschreibung der Aufnahmeländer und ihrer unterschiedlichen Reaktionen auf die Flüchtlinge. Benz analysiert unter anderem die Situation in der Schweiz, in Frankreich, Großbritannien, den USA, Palästina, der Sowjetunion und in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern. Dabei wird deutlich, dass keine dieser Gesellschaften vorbehaltlos offen für die Ankommenden war. Viele Exilanten wurden mit Misstrauen betrachtet, mussten mit administrativen Hürden kämpfen und sahen sich nicht selten wirtschaftlicher Not und gesellschaftlicher Ausgrenzung ausgesetzt. Dennoch gelang es vielen, neue Netzwerke zu knüpfen, Exilzeitschriften zu gründen, sich politisch zu engagieren oder kulturell produktiv zu bleiben.

Besonderes Augenmerk legt Benz auf die intellektuellen und künstlerischen Eliten, die ins Exil gingen. Er porträtiert Schriftsteller wie Thomas Mann, Bertolt Brecht oder Anna Seghers ebenso wie Wissenschaftler und Künstler, die im Ausland versuchten, ihre Arbeit fortzusetzen. Dabei verweist Benz auch auf die Spannungen innerhalb der Exilgemeinschaften: unterschiedliche politische Überzeugungen, kulturelle Missverständnisse und Konkurrenz um knappe Ressourcen führten nicht selten zu Konflikten. Das Exil war somit nicht nur ein Ort der Zuflucht, sondern auch ein Raum des Ringens um Identität, Selbstverständnis und Zukunft.

Ein weiterer Abschnitt ist den jüdischen Flüchtlingen gewidmet. Benz zeichnet nach, wie sich ihre Situation zunehmend verschärfte: von der Entrechtung über die wirtschaftliche Ausgrenzung bis hin zur physischen Vernichtung. Viele Juden versuchten verzweifelt, dem drohenden Schicksal zu entkommen, doch oft waren Fluchtwege versperrt, Visa nicht erhältlich oder die Zielorte überfordert. Besonders tragisch sind die Geschichten jener, die in letzter Minute an bürokratischen Hürden scheiterten oder in Transitländern strandeten. Benz arbeitet heraus, dass die internationale Gemeinschaft weitgehend untätig blieb – die Konferenz von Évian 1938 etwa offenbarte die mangelnde Bereitschaft der Weltgemeinschaft, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen.

Ein zentrales Thema des Buches ist das Leben im Exil selbst. Benz beschreibt die existenziellen Herausforderungen der Exilierten: materielle Not, Identitätskrisen, Heimweh, kulturelle Entwurzelung und politische Isolation. Viele verloren nicht nur ihre Heimat, sondern auch ihren Beruf, ihr soziales Umfeld, ihre Sprache. Dennoch entwickelte sich das Exil auch zu einem Ort produktiven Widerstands. In Literatur, Wissenschaft und Politik entstanden wichtige Impulse, die nach dem Krieg in die bundesrepublikanische und internationale Debatte eingingen.

Besonders beeindruckend ist die Vielstimmigkeit, die Benz durch zahllose biografische Skizzen und Quellenzitate erreicht. Die individuellen Lebensgeschichten verleihen dem Buch Tiefe und Anschaulichkeit. Exil wird hier nicht als abstrakter Zustand, sondern als konkrete Erfahrung von Verlust, Hoffnung und Widerstand greifbar. Dabei wahrt Benz stets eine wissenschaftliche Nüchternheit und vermeidet pathetische Überhöhung. Stattdessen vertraut er auf die Kraft der Fakten und die Wirkung präziser Sprache.

Wolfgang Benz, Jahrgang 1941, ist emeritierter Professor für Geschichte an der Technischen Universität Berlin und war langjähriger Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung. Er gehört zweifellos zu den profiliertesten Vertretern der deutschen Zeitgeschichtsforschung und hat sich insbesondere durch seine Arbeiten zu Antisemitismus, Nationalsozialismus und Erinnerungskultur einen Namen gemacht. Seine Publikationen zeichnen sich durch gründliche Quellenarbeit, klare Argumentationsführung und einen unprätentiösen Stil aus, der wissenschaftliche Tiefe mit Lesbarkeit verbindet. Benz versteht es, komplexe historische Zusammenhänge verständlich darzustellen, ohne dabei in Vereinfachungen zu verfallen.

Seine wissenschaftliche Reputation gründet sich nicht nur auf seine umfangreiche Publikationstätigkeit, sondern auch auf sein Engagement in der öffentlichen Geschichtsvermittlung. Benz ist ein gefragter Gesprächspartner in Medien, bei Gedenkveranstaltungen und in der politischen Bildung. Er hat zahlreiche Sammelbände herausgegeben und gilt als Brückenbauer zwischen akademischer Forschung und gesellschaftlicher Erinnerungskultur. Besonders hervorzuheben ist seine Fähigkeit, historische Themen mit aktueller Relevanz zu verbinden – etwa in der Analyse von Vorurteilsstrukturen oder der Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus.

Exil. Geschichte einer Vertreibung 1933–1945 ist ein ebenso eindrucksvolles wie notwendiges Buch. Wolfgang Benz gelingt es, die Vielschichtigkeit des Exils sichtbar zu machen und zugleich ein Mahnmal für das Schicksal der Vertriebenen zu errichten. Seine Arbeit verbindet historische Tiefenschärfe mit menschlicher Empathie und leistet einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur.

Das Buch eignet sich besonders für historisch interessierte Leserinnen und Leser, für Studierende und Lehrende der Geschichtswissenschaften, aber auch für eine breitere Öffentlichkeit, die sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus, Migration und Exilerfahrung auseinandersetzen möchte. Es ist ein Werk, das Wissen vermittelt und zum Nachdenken anregt – über Vergangenheit, Gegenwart und die Verantwortung für die Zukunft.

 

 

 

Autor: Wolfgang Benz
Titel: „Exil – Geschichte einer Vertreibung 1933-1945“
Herausgeber: C.H.Beck
Gebundene Ausgabe: 407 Seiten
ISBN-10: 3406829333
ISBN-13: 978-3406829338

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