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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Andrey Gurkov: „Für Russland ist Europa der Feind – Warum meine Heimat mit dem Westen gebrochen hat“

Am: | April 14, 2025

Wir leben in unruhigen Zeiten. Wer wie ich (und auch der Autor des vorliegenden Buches) in Zeiten des Kalten Krieges und der klaren Fronten aufgewachsen ist und dann in den besten Jahren mit der Wende in der DDR, der Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch des Ostblocks den Anbruch einer neuen (und hoffentlich friedlicheren!) Epoche miterleben, vom „wind of change“ bis hin zu einem „Ende der Geschichte“ träumen durfte, der fühlt sich nicht erst seit der russischen Annektierung der Krim, aber spätestens seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine, als wäre er nach einer durchzechten Nacht verkatert aufgewacht, und alles hat sich über Nacht zum Schlechten gewendet.

Es war und ist leider keine Veränderung, die plötzlich und unerwartet, also „über Nacht“ geschah, die Zeichen des Wandels waren für aufmerksame Beobachter schon lange zu sehen, aber wer ist schon ein aufmerksamer Beobachter des deutsch-russischen Verhältnisses? – Ich jedenfalls nicht, aber der Autor des vorliegenden Buches, Andrey Gurkov, ist ein solcher Experte, nicht nur, weil er Russe ist, 1959 in Moskau geboren, als Kind eines sowjetischen Auslandskorrespondenten in Ostberlin und später in Bonn aufgewachsen. Gurkov studierte Journalistik in Leipzig und Moskau, war in der Wende- und Nachwendezeit Chefredakteur der deutschen Ausgabe der Wochenzeitung Moskowskoje Nowosti und arbeitet seit 1993 in der russischen Redaktion der Deutschen Welle.

Dieses Buch ist keine leichte Kost. Die Lektüre wird sie unruhig machen, denn sein Inhalt räumt sehr gründlich auf mit der immer noch bei vielen Deutschen verankerten Sympathie für „die Russen“ und ihre Kultur; immer noch gibt es viele verbissene Anhänger jener viel beschworenen deutsch-russischen Freundschaft, die doch eine Freundschaft unter Europäern ist, und es wird oft wiederholt und betont, dass es doch eigentlich nur „Putins Krieg“ sei, der da vor unserer Haustür stattfindet, und dass „die Russen“ doch mehrheitlich gegen diesen Krieg seien und am liebsten nicht nur ein Ende des gegenseitigen Abschlachtens und Kaputtbombens, sondern im Gegenzug gleich noch den Wandel zu einem demokratischen und mit Europa in friedlicher Eintracht existierenden Russland sehen würden.

Andrey Gurkov zeigt in seinem mit viel Verve und Engagement geschrieben Buch, dass Russland schon lange „mit dem Westen gebrochen“ hat und auch nichts von der westlich-demokratischen Idee der Freiheit hält. Wenn hierbei verallgemeinernd von dem Russland gesprochen wird, so bezieht sich der Autor hierbei auf die Mehrheit seiner Bürger, die zweifellos durch die russische Propaganda-Maschine auf Linie gebracht wurden, wie es leider inzwischen in vielen autokratisch geführten Ländern üblich ist.

Was dieses Buch so packend und mitreißend macht, ist nicht zuletzt die persönliche Erzähl-Perspektive: Andrey Kurkov versteht sein Handwerk und weiß, seine journalistischen Werkzeuge einzusetzen, um seine Leserschaft von Anfang bis Ende zu fesseln. Der Autor und seine Biografie sind im gesamten Text präsent und verleihen der Enttäuschung, der Wut und der Verzweiflung über das eigene Land eine starke Authentizität.

Wie groß seine Enttäuschung über das aktuelle Russland ist und wie sehr sich der Autor bemüht zu differenzieren, zeigt sich bereits auf den ersten Seiten, wenn er schreibt: „Ich hadere mit der russischen Gesellschaft der letzten beiden Jahrzehnte, aber nicht mit der klassischen russischen Kultur.“ Und weiter: „Ich bleibe tief verwurzelt in der russischen Sprache; die russische Literatur bedeutet mir nach wie vor sehr viel. […] Ich bleibe Russe, aber ich bin ein europäischer Russe oder ein russischer Europäer, das Leben in Deutschland hat mich zu einem überzeugten Befürworter und Anhänger der EU gemacht, ich habe die europäische Idee verinnerlicht und stehe zu ihr.“

Eine Fülle von gut recherchierten Fakten und Belegen begleiten den leidenschaftlichen Text, der sein Ziel, die Leser wachzurütteln und aus ihrem deutsch-russischen Traum zu reißen, zu hundert Prozent erfüllt.

„Für Russland ist Europa der Feind“, das ist nicht nur eine persönliche Meinung oder eine willkürliche Behauptung des Autors, sondern lässt sich nach der Lektüre dieses starken Buches nicht so schnell widerlegen, selbst wenn es für die Älteren von uns nach der uralten Litanei und der Rede vom „ösen Russen“ klingt, vor dem man Angst haben und sich hüten sollte. – Es sieht leider so aus, als ob sich die Zeit der deutsch-russischen Freundschaft im Nachhinein nur als eine vorübergehende Phase – und somit als Vergangenheit erweist.

Ein Buch, das aufrüttelt, und ein starkes Plädoyer dafür, endlich die rosaroten Brillen abzunehmen und den unbequemen Wahrheiten ins Gesicht zu blicken.

 

 

 

Autor: Andrey Gurkov
Titel: „Für Russland ist Europa der Feind – Warum meine Heimat mit dem Westen
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
ISBN-10: 3462007289
ISBN-13: 978-3462007282

 

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