Alice Berend: „Frau Hempels Tochter“
Am: | April 11, 2025
Alice Berend ist heute weitgehend in Vergessenheit geraten, obwohl sie in den 1910er und 1920er Jahren eine bedeutende Rolle in der deutschsprachigen Literatur spielte. Als Vertreterin einer literarischen Richtung, die sich durch gesellschaftliche Beobachtungsgabe, ironische Brechung und weibliche Perspektive auszeichnete, gehört sie zu jenen Autorinnen, die den Zeitgeist der ausgehenden wilhelminischen Ära und der beginnenden Weimarer Republik präzise einfangen konnten. Der Roman Frau Hempels Tochter, erstmals erschienen im Jahr 1913, ist ein herausragendes Beispiel ihres künstlerischen Schaffens und zugleich ein gesellschaftliches Dokument einer untergegangenen Welt.
Der Roman erzählt die Geschichte der jungen Else Hempel, die aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammt und sich in der großstädtischen Gesellschaft Berlins zurechtfinden muss. Ihre Mutter, Frau Hempel, ist eine pragmatische, biedere Frau, die große Hoffnungen in ihre Tochter setzt. Else, die eine gewisse Bildung und Intelligenz mitbringt, versucht, sich zwischen den Erwartungen ihrer Mutter, den Konventionen ihrer Zeit und ihren eigenen Wünschen und Träumen zu behaupten. Dabei gerät sie in die Kreise der bürgerlichen Gesellschaft, erlebt amouröse Verwicklungen, berufliche Enttäuschungen und eine langsame, aber stetige Emanzipation von traditionellen Rollenbildern.
Berend beschreibt diese Entwicklung mit feinem Gespür für soziale Milieus, Sprachwitz und einem tiefen Verständnis für die psychologischen Konflikte junger Frauen in einer sich wandelnden Gesellschaft. Die Hauptfigur Else ist keine Heldin im klassischen Sinne, sondern eine Suchende, deren Entwicklung exemplarisch für viele Frauen ihrer Zeit steht.
Der Roman erschien kurz vor dem Ersten Weltkrieg, in einer Umbruchszeit: Die wilhelminische Gesellschaft war geprägt von verkrusteten Strukturen, von rigiden Geschlechterrollen, einem festen Klassenbewusstsein und einem starken Hang zu Konventionen geprägt. Gleichzeitig regte sich in der Literatur, insbesondere unter Schriftstellerinnen, der Wunsch, diese Strukturen aufzubrechen und weibliche Lebenswirklichkeiten differenzierter darzustellen. Alice Berend gehört zu einer Generation von Autorinnen, die sich gegen patriarchale Erzählmuster wandten und stattdessen die Lebenswelt von Frauen in den Mittelpunkt stellten.
Berends Bedeutung liegt in ihrer Fähigkeit, die gesellschaftlichen und psychologischen Mechanismen des bürgerlichen Lebens mit einem satirischen, aber nie zynischen Blick zu entlarven. Sie war eine Meisterin der „leichten Form“, verstand es jedoch, ernste Themen in unterhaltsame Erzählungen zu verpacken. Ihr Stil ist pointiert, dialogreich und von einem scharfen Auge für Details geprägt.
Ein literarischer Vergleich drängt sich insbesondere mit Theodor Fontane auf, der ebenfalls das Berliner Bürgertum porträtierte und weibliche Figuren in den Mittelpunkt stellte. Fontanes Romane wie Effi Briest oder Frau Jenny Treibel beschäftigen sich schon am Ende des 19. Jahrhunderts mit ähnlichen Themen wie gesellschaftliche Konvention, weibliche Selbstbehauptung und das Scheitern an gesellschaftlichen Normen. Doch während Fontane seine Protagonistinnen oft in einem tragischen Licht erscheinen lässt, ist bei Berend der Ton leichter, bisweilen humorvoller. Else Hempel scheitert nicht an der Gesellschaft, sondern sie ringt sich schrittweise eine Position innerhalb dieser Gesellschaft ab.
Stilistisch steht Alice Berend noch zwischen dem Realismus und der beginnenden Moderne; insofern ist sie zeitlich betrachtet, etwas spät dran, denn die literarische Avantgarde vollzog diesen Wandel vom Realismus zum Naturalismus und Expressionismus bereits, bevor Alice Berend schriftstellerisch produktiv wurde. Aber ihre Romane sind unterhaltsam und bieten eine leichte Lektüre; ihre Sprache ist zugänglich, ihre Dialoge lebendig, ihre Figuren vielschichtig. Anders als bei Fontane gibt es in ihrem Werk keine allwissende Erzählposition; stattdessen wechseln Perspektiven und geben Einblick in verschiedene Denk- und Gefühlswelten.
Zur Zeit ihrer Veröffentlichung war Alice Berend eine viel gelesene und geschätzte Autorin. Ihre Bücher wurden in hohen Auflagen verkauft, und sie war Teil der literarischen Szene Berlins. Doch nach dem Ersten Weltkrieg und spätestens mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten geriet sie zunehmend in Vergessenheit. Als Jüdin emigrierte sie 1933 nach Italien und starb dort 1938 in Florenz, isoliert und verarmt.
Die Rezeption ihrer Werke in der Nachkriegszeit blieb gering. Erst in den letzten Jahren ist wieder ein verstärktes Interesse an vergessenen Autorinnen der Moderne zu beobachten, in dessen Zuge auch Berends Werk eine Renaissance erfährt. Ihre Texte sind nicht nur literarisch wertvoll, sondern bieten auch kulturhistorische Einblicke in das Leben und Denken der deutschen Bürgerschaft im späten Kaiserreich.
Frau Hempels Tochter ist ein Roman, der Leserinnen und Leser mitnimmt in eine vergangene Welt, deren Probleme uns dennoch vertraut erscheinen: die Suche nach Identität, das Ringen um Selbstbestimmung, das Spannungsfeld zwischen Erwartungen und eigenen Träumen. Alice Berends Stil ist klug, unterhaltsam und psychologisch durchdrungen.
Besonders empfehlenswert ist die Lektüre für Leserinnen und Leser, die sich für Literatur der Jahrhundertwende interessieren, für Genderfragen in der Literatur, für Berliner Stadtgeschichte oder für Autorinnen der Moderne. Doch auch im literaturwissenschaftlichen Kontext bietet das Werk vielfältige Ansatzpunkte für Analysen zur Narration, zur Geschlechterdarstellung und zur literarischen Satire.
Die Wiederentdeckung von Alice Berend bedeutet nicht nur die Rettung eines literarischen Kleinods vor dem Vergessen, sondern auch die Anerkennung einer weiblichen Perspektive auf eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, die lange Zeit im Schatten ihrer männlichen Kollegen stand.
Autor: Alice Berend
Titel: „Frau Hempels Tochter“
Herausgeber: Reclam
Gebundene Ausgabe: 200 Seiten
ISBN-10: 315011523X
ISBN-13: 978-3150115237
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