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Gabriela Wiener: „Unentdeckt“

Am: | April 11, 2025

Gabriela Wiener, geboren 1975 in Lima, Peru, ist eine herausragende Schriftstellerin und Journalistin, die für ihre tiefgehenden und oft selbstreflexiven Werke bekannt ist. Ihr Schaffen umfasst eine Vielzahl von Genres, darunter Essays, Romane und Gedichte, die sich mit Themen wie Identität, Sexualität, Kolonialismus und familiären Beziehungen auseinandersetzen.

Sie wurde als Tochter des bekannten politischen Analysten und Journalisten Raúl Wiener und der Sozialarbeiterin Elsi Bravo geboren. Sie studierte Linguistik und Literatur an der Päpstlichen Katholischen Universität von Peru und absolvierte später einen Master in historischer Kultur und Kommunikation an der Universität von Barcelona. Seit 2003 lebt sie in Spanien, zunächst in Barcelona und später in Madrid.

Ihre journalistische Karriere begann sie bei der peruanischen Zeitung El Comercio und war Mitglied der Redaktion der Zeitschrift „Lateral“. In Spanien arbeitete sie als Chefredakteurin der Zeitschrift Marie Claire und schrieb Kolumnen für renommierte Publikationen wie El País und The New York Times auf Spanisch.

Gabriela Wieners Werke sind geprägt von einer intensiven Auseinandersetzung mit persönlichen und gesellschaftlichen Themen. Unentdeckt ist die deutsche Übersetzung (von Friederike von Criegern) des vor vier Jahren erschienenen Romans Huaco retrato, in dem sich die Autorin intensiv mit der Geschichte ihres Ururgroßvaters Charles Wiener auseinandersetzt.

Charles Wiener, ein österreichisch-französischer Wissenschaftler und Abenteurer, bereiste in den 1870er Jahren Peru und Bolivien und brachte Tausende von präkolumbianischen Artefakten nach Europa, die heute in Museen wie dem Pariser Musée du Quai Branly ausgestellt sind.

Der Roman beginnt mit Gabriela Wieners Besuch einer Ausstellung über ihren Vorfahren in Paris, was sie dazu veranlasst, die kolonialen Verstrickungen ihrer Familie und deren Auswirkungen auf ihre eigene Identität zu hinterfragen. Sie reflektiert über die Rolle ihres Ururgroßvaters als „Grabräuber“ und die problematische Aneignung kultureller Schätze durch europäische Kolonialmächte.

Darüber hinaus beleuchtet Wiener die Beziehung zu ihrem Vater, Raúl Wiener, einem linken Journalisten, der eine parallele Familie mit einer anderen Frau und Tochter hatte. Diese familiären Enthüllungen führen sie zu einer tieferen Auseinandersetzung mit Themen wie Verrat, Loyalität und der Suche nach Wahrheit innerhalb der Familie.

Gabriela Wiener nutzt ihren Roman, um die fortwährenden Auswirkungen des Kolonialismus auf individuelle und kollektive Identitäten zu untersuchen. Sie stellt die Frage, wie viel von der kolonialen Vergangenheit in der Gegenwart weiterlebt und wie diese Geschichte persönliche Beziehungen und Selbstwahrnehmungen beeinflusst.

Auch in Interviews betont sie immer wieder die Notwendigkeit, die koloniale Geschichte nicht zu glorifizieren und fordert eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. So sieht sie beispielsweise den 12. Oktober, den Tag der Entdeckung Amerikas, als Beginn einer blutigen Geschichte und plädiert für Empathie und Respekt gegenüber den Opfern des Kolonialismus.

Gabriela Wiener ist eine bedeutende Stimme der lateinamerikanischen Literatur, die es versteht, persönliche Erfahrungen mit gesellschaftlichen und historischen Themen zu verknüpfen. Ihr Werk bietet eine tiefgehende Reflexion über Identität, Kolonialismus und familiäre Verstrickungen. In ihrem neuen Roman Unentdeckt verfolgt sie dieselbe Absicht, sich mit diesen Themen — auch aus einer sehr persönlichen Perspektive — zu beschäftigen. Durch die Auseinandersetzung mit der Geschichte ihres Ururgroßvaters und den Auswirkungen des Kolonialismus auf ihre Familie und sich selbst, schafft sie ein Werk, das sowohl persönlich als auch universell relevant ist.

Die Inspiration für den Roman fand Gabriela Wiener während eines Besuchs im Musée du Quai Branly in Paris, wo sie die von Charles Wiener gesammelten Artefakte betrachtete. Diese Erfahrung veranlasste sie, über das koloniale Erbe und die Auswirkungen auf ihre eigene Identität nachzudenken. Ursprünglich plante sie, das Thema journalistisch zu bearbeiten, entschied sich jedoch später für eine fiktionale Herangehensweise, um die Lücken in der Familiengeschichte zu füllen und die emotionale Tiefe der Thematik zu erfassen.

Die Autorin integriert in ihrem Roman Elemente verschiedener Genres, darunter Autobiografie, Essay und Fiktion. Sie selbst bezeichnet das Werk als Beitrag zu den „epistemologías descoloniales“, also den dekolonialen Wissensformen, und untersucht, wie Identitätskonflikte durch Liebe und Sexualität geprägt werden. Der Roman thematisiert den fortwährenden Einfluss des Kolonialismus auf persönliche und kollektive Identitäten und fordert eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.

Gabriela Wiener hat mit Unentdeckt ein berührendes Buch geschrieben, das nicht nur ein intimes Zeugnis der eigenen familiären Verbundenheit und der daraus folgenden intensiven Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe ist. Unentdeckt ist ein tiefgehender Roman, der persönliche Erfahrungen mit historischen und gesellschaftlichen Fragestellungen verknüpft. Auf diese Weise gelingt es ihr, durch die Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte und ihrem eigenen Leben universelle Themen wie Identität, Kolonialismus und die Komplexität menschlicher Beziehungen zu beleuchten.

 

 

Autor: Gabriela Wiener
Titel: „Unentdeckt“
Herausgeber: Kanon Verlag Berlin
Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
ISBN-10: 3985681651
ISBN-13: 978-3985681655

 

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