Michael Maar: „Das Blaubartzimmer – Thomas Mann und die Schuld“
Am: | April 10, 2025
Die Begriffe „Schuld“ und „Sünde“ durchziehen das Werk Thomas Manns wie ein roter Faden und spiegeln seine tiefgehende Auseinandersetzung mit moralischen, ethischen und existenziellen Fragen wider. Diese Themen sind nicht nur in seinen literarischen Werken präsent, sondern auch in seinem persönlichen Leben und den Reflexionen der Literaturwissenschaft über sein Œuvre von zentraler Bedeutung.
In der Novelle Der Erwählte greift Thomas Mann das mittelalterliche Motiv der „felix culpa“ auf, der glücklichen Schuld. Der Protagonist Gregorius wird aus einer inzestuösen Beziehung geboren und begeht später unwissentlich erneut Inzest, indem er seine eigene Mutter heiratet. Nach Jahren der Buße wird er schließlich zum Papst gewählt, was die Vorstellung unterstreicht, dass aus tiefster Schuld letztlich Gnade und Erhöhung erwachsen können. Mann reflektiert hier über die Dialektik von Sünde und Erlösung und stellt die Möglichkeit in den Raum, dass Verfehlungen letztlich zu höherer Erkenntnis und Läuterung führen können.
Ein weiteres Beispiel ist die Erzählung Die Betrogene, in der die Protagonistin Rosalie von Tümmler in späten Jahren eine leidenschaftliche Liebe zu dem deutlich jüngeren Ken Keaton entwickelt. Diese „unmögliche Liebe“ wird von gesellschaftlichen Normen und inneren Konflikten überschattet. Rosalies Gefühl der Schuld gegenüber den Konventionen und ihrer Familie führt letztlich zu ihrem Tod. Hier untersucht Mann die Spannungen zwischen individuellen Sehnsüchten und gesellschaftlichen Moralvorstellungen sowie die Konsequenzen, die aus dem Überschreiten moralischer Grenzen resultieren.
Die Literaturwissenschaft hat die Bedeutung des Schuldbegriffs in Manns Werk intensiv untersucht. Besonders die Idee der „felix culpa“ wurde in Bezug auf Der Erwählte hervorgehoben, wobei diskutiert wird, wie Thomas Mann das Konzept der glücklichen Schuld literarisch verarbeitet und welche Implikationen dies für das Verständnis von Moral und Erlösung hat. Ebenso wird in Die Betrogene die Darstellung der verbotenen Liebe und deren tragische Konsequenzen analysiert, wobei Manns eigene biografische Hintergründe und seine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen berücksichtigt werden.
In der aktuellen Thomas-Mann-Forschung bleibt die Untersuchung von „Schuld“ relevant, insbesondere im Kontext von Manns Auseinandersetzung mit ethischen Dilemmata und menschlichen Abgründen. Neuere Ansätze beleuchten zudem, wie Manns persönliche Erfahrungen und zeitgeschichtliche Ereignisse seine Darstellung dieser Themen beeinflusst haben. Die fortwährende Relevanz dieser Motive in seinem Werk zeigt, dass Thomas Manns literarische Reflexionen über Schuld und Sünde weiterhin zentrale Anknüpfungspunkte für das Verständnis seiner Werke und der menschlichen Natur bieten. Der Schuldbegriff ist für Manns Werk zentral; er betrachtete sie als den Urgrund alles Geistigen.
Als Thomas Mann im April 1933 im Schweizer Exil darauf wartete, dass seine frühen Tagebücher von seinem Sohn Golo in einem Koffer aus der Münchner Wohnung geholt und ins Schweizer Exil verbracht werden, damit sie nicht in die Hände der Nazis fallen, war seine Verzweiflung groß, als das Eintreffen des Koffers auf sich warten ließ. In größter nervlicher Anspannung schrieb er von „Anschlägen gegen die Geheimnisse meines Lebens“, die ihm drohten und seinem Ansehen schaden würden, falls diese intimen frühen Aufzeichnungen von den Nationalsozialisten ausgeschlachtet und für ihre Propaganda missbraucht würden. Jene Geheimnisse seines Lebens seien „schwer und tief, Furchtbares, ja Tödliches kann geschehen“, schrieb er weiter.
Die literaturwissenschaftliche Forschung brachte diese „Geheimnisse“ Thomas Manns immer wieder mit dem offenen Geheimnis seiner homoerotischen Neigungen in Verbindung – eine vielleicht naheliegende, aber wenig plausible Vermutung, wenn man Manns Werk genauer betrachtet; denn seine literarischen Texte und vor allem seine Tagebuchaufzeichnungen sind voller Hinweise auf die zentrale Bedeutung, welche die Homoerotik für Thomas Manns Kreativität und für sein literarisches Schaffen hatte.
Der bekannte Germanist Michael Maar begibt sich auf Spurensuche im Werk Thomas Manns und versucht, die wahre und elementare Bedeutung des Schuldbegriffs in Thomas Manns Werk zu erschließen: eine wahrhaft groß angelegte Forschungsarbeit, der nicht nur wissenschaftlicher Respekt zu zollen ist, sondern die auch ein völlig neues Licht auf das Gesamtwerk des wohl bedeutendsten deutschen Schriftstellers im 20. Jahrhundert wirft. So durchforstet er von den frühesten Erzählungen bis zum Doktor Faustus und dem Erwählten Thomas Manns literarisches Werk und bezieht auf seiner Spurensuche auch biografische Erlebnisse und Manns Tagebuchaufzeichnungen und Briefe ein.
Michael Maar gehört ohne Zweifel zu den bedeutendsten deutschen Literaturwissenschaftlern und Essayisten der Gegenwart. Seine Dissertation über Thomas Mann, die später unter dem Titel Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg erschien, machte ihn schlagartig bekannt und brachte ihm den Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ein. Seit den 1990er Jahren arbeitet Maar als freier Autor und Literaturkritiker.
Seine Texte erscheinen regelmäßig in großen deutschsprachigen Feuilletons. Inhaltlich bewegen sie sich meist im Spannungsfeld von literarischer Analyse, Sprachgefühl und subtiler Ironie. Michael Maar gilt zurecht als eine der originellsten Stimmen der deutschen Literaturkritik.
Das Blaubartzimmer von Michael Maar ist nicht nur für Literaturwissenschaftler eine interessante und bereichernde Lektüre, sondern passt nicht zuletzt wegen der stilistischen Schönheit des Textes auch wunderbar zur eigenen (erneuten) Lektüre der Werke Thomas Manns in seinem Jubiläumsjahr 2025.
Autor: Michael Maar
Titel: „Das Blaubartzimmer – Thomas Mann und die Schuld“
Herausgeber: Rowohlt Buchverlag
Gebundene Ausgabe: 128 Seiten
ISBN-10: 3498007416
ISBN-13: 978-3498007416
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