Tina Hartmann: „Vergesst Kant! Was war und ist Aufklärung wirklich?“
Am: | Januar 6, 2025
Kennen Sie den Schurwolle-Effekt? – Sobald man einen Pullover aus 100% Schurwolle angezogen hat, empfängt einen zunächst ein kratziges Gefühl, das mitunter so unangenehm ist, dass man spontan den Impuls verspürt, den Pullover möglichst schnell wieder auszuziehen. Dann jedoch, schon nach ein paar Minuten, entfaltet sich der volle Tragekomfort dieses Pullovers, und man genießt die angenehm wohlige Wärme, die durch das natürliche Material Wolle ermöglicht wird.
Einen ähnlichen Schurwolle-Effekt verursachte das schmale Reclam-Bändchen mit dem interessanten Titel „Vergesst Kant!“ beim Rezensenten: Zunächst löst die Lektüre bei mir, einem „Baby-Boomer“ und somit automatisch das Prädikat „alter weißer Mann“ tragenden 63-jährigen, ein ähnlich kratziges Gefühl aus, das jedoch überwunden werden muss; doch bald schon erweist sich der Text als eine hochinteressante und willkommene Aufforderung zur ehrlichen Überprüfung der eigenen Sichtweisen; man(n) muss nur genügend Resilienz aufweisen, um über die ersten Seiten zu kommen.
Schon die ersten Seiten machen klar, womit wir es hier zu tun haben werden: Es handelt sich um eine Streitschrift aus anti- bzw. post-kolonialistischer und anti-patriarchalischer Perspektive, die sich als eine Fundamental-Kritik der europäischen Aufklärung geriert; denn die Aufklärung, von der man(n) gemeinhin redet und untrennbar mit dem Namen Immanuel Kant verbindet, ist keineswegs die einzige (und erst recht nicht die fortschrittlichste) Strömung jener allgemeinen Reformphase des europäischen Geisteslebens gewesen, als die wir sie in der Schule kennengelernt haben und als die sie uns bis heute „verkauft“ wird. Doch neben dieser „Aufklärung à la Kant“ gab es noch viele andere liberale und antiklerikale Strömungen, darunter auch weibliche Akteure und sogar wichtige Impulse aus den Kolonialgebieten.
Kant ist aus dieser eher globalen und universalen Perspektive, welche die Freiheit und Gleichheit aller Menschen (und nicht nur aller Männer) fordert, mit seinen bekannt misogynen Ansichten zumindest problematisch; auch die (männliche) Sklaverei verurteilt Kant erst gegen Ende seines Lebens. Er war also nicht nur mit seiner Definition der Aufklärung relativ spät dran …
Die Verfasserin dieser Streitschrift, Tina Hartmann, ist Professorin für Literaturwissenschaft in Bayreuth, Autorin, Librettistin und Literaturkritikerin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Nun darf man sich natürlich spontan die Frage nach der Motivation stellen, welche für die Autorin ausschlaggebend war, sich zu einer Kritik der europäischen Aufklärung, wie wir sie kennen, zu erwärmen. Die Literaturwissenschaft beschäftigt sich naturgemäß mit einem zwar zentralen, aber nur kleinen Teilbereich des gesamten kulturellen, philosophischen, sozialen und politischen Geisteslebens einer Epoche; aber der Ansatzpunkt der Autorin ist in der Tat auch ein anderer, als erwartet.
Tina Hartmann erzählt die historische Geschichte der Mainstream-Aufklärung als eine Verlustgeschichte: Verlust in erster Linie an Diversität und Universalität. Als Kant seine berühmten Kritiken verfasste und auch den Aufsatz „Was ist Aufklärung?“ publizierte, waren das Projekt Aufklärung und die Fragen, was dazugehört und was nicht, schon längst ausdiskutiert und verhandelt. Eigentlich hätte der Titel von Kants Aufsatz „Was war Aufklärung?“ lauten müssen.
Was bei Kant so hübsch universell klingt — Aufklärung sei „der Ausgang des Menschen aus deiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ — ist bei genauerer Betrachtung gar nicht so umfassend gemeint, sondern wendet sich und bezieht sich vor allem auf Menschen männlichen Geschlechts und weißer Hautfarbe.
„Der eingeschränkte Universalismus Kants ist weder ein blinder Fleck noch eine dem Denksystem inhärente Einschränkung“, sondern eine „bewusste, außersystematische Setzung, die keineswegs unreflektiert […] alte gesellschaftliche Konventionen mitschleppt, sondern im Gegenteil das Ausgrenzungssystem [seiner Epoche] fit macht für die Zukunft“. — Das ist ein starker Vorwurf und eine steile These, die aber nach der Lektüre durchaus plausibel erscheint. Der Androzentrismus ist im Denken jener Zeit so stark verankert und „selbstverständlich“, dann sich die (weißen) Männer ihrer Privilegien im Vergleich zu Frauen und Männern anderer Hautfarbe oder Abstammung teil- oder zeitweise gar nicht bewusst waren.
Die Autorin macht schon zu Beginn ihres Essays jenen zentralen Kritikpunkt an der europäischen Aufklärung deutlich, indem sie schreibt, dass „im 18. Jahrhundert zwischen die Bedürfnisse weiblicher, schwarzer, indigener und jüdischer Menschen kein Blatt passte“; doch all jene Gruppen würden in der europäischen Aufklärung ab origo nicht berücksichtigt.
Doch es gab eine Menge weiblicher, schwarzer, indigener und jüdischer Akteure, die alternative Wege aufzeigten und durchaus liberalere und universellere Utopien entwickelten; „die netzwerkartigen Verbindungen zwischen deren Schriften und Ideen aufzuzeigen, ist das Ziel der folgenden Seiten“, und genau hier kommt auch wieder die literaturwissenschaftliche Kernkompetenz der Autorin zum Tragen: der wissenschaftliche Umgang mit Texten in ihrer Historizität und die Herausarbeitung ihrer Relevanz bis in unsere Gegenwart.
Auf diese Weise entfaltet dieser Essay ein breites Spektrum an gesellschaftlichen Konfliktfeldern und reformerischen Ansätzen und macht deutlich, dass das „Projekt Aufklärung“ auch heute noch keineswegs abgeschlossen ist. Die Überwindung patriarchalischer Ordnungen, die Gleichberechtigung der Frau, die Abschaffung der Sklaverei und des Kolonialismus, die Reform des Völkerrechts bis hin zu einem „nonbinären Universalismus“ waren und sind Ziele einer wahren und ernstgemeinten Aufklärung.
Dieses kleine Büchlein ist auf jeden Fall und für jede(n) lesenswert; denn es wirkt wie ein starker Espresso, macht den Kopf frei und weitet den Blick auf den Horizont und auf die mögliche Welt dahinter! „Vergesst Kant!“ ist nicht nur ein leidenschaftlicher Appell, sondern auch eine gute Idee — auch und gerade im Jubiläumsjahr 2024, wo „wir“(?) den 300. Geburtstag des großen Königsberger Philosophen feiern.
Autor: Tina Hartmann
Titel: „Vergesst Kant! Was war und ist Aufklärung wirklich?“
Herausgeber: Reclam
Taschenbuch: 102 Seiten
ISBN-10: 3150145902
ISBN-13: 978-3150145906
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