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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

David Blackbourn: „Die Deutschen in der Welt – Eine globale Geschichte vom Mittelalter bis heute“

Am: | Dezember 18, 2024

Der britische Historiker David Blackbourn hat mit „Die Deutschen in der Welt“ einen wirklich beeindruckend dicken, 1000-seitigen Wälzer vorgelegt; seine Globalgeschichte der Deutschen wird zweifellos zu einem Standardwerk der modernen Geschichtsschreibung werden.

Dieses Buch richtet seinen Blick auf Deutschland aus einer globalen Perspektive und lädt dazu ein, die deutsche Geschichte als Teil eines globalisierten Zeitalters zu verstehen. Man kann es sich als eine Neuinterpretation der deutschen Geschichte vorstellen, die über die Grenzen der Nation hinausblickt und die vielfältigen internationalen Verflechtungen Deutschlands in den Fokus rückt. Eine solche Perspektive ist längst überfällig, denn sie erlaubt es, die Rolle Deutschlands in einer immer stärker vernetzten Welt differenzierter zu betrachten. Das Besondere an diesem Ansatz ist, dass die engen Verbindungen zwischen den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas und der weiteren Welt hier nicht nur als Randthema auftauchen, sondern im Zentrum stehen. Das Buch widmet sich der Frage, wie Menschen, Güter und Ideen in den letzten fünf Jahrhunderten die Grenzen Deutschlands überschritten haben und welche Dynamiken sich daraus ergeben haben.

Der wissenschaftliche Terminus dieser globalen Verflechtungen heißt „transnational“; dieser Begriff ist bei der Forschung gerade schwer in Mode und wird auch gerne von der akademischen Community in Exposés eingestreut, um Förderanträge aufzupeppen. Gleichwohl bleibt die Erkenntnis der Transnationalität von kulturellen und wirtschaftlichen Austauschprozessen eine Tatsache, die zum Glück längst in der Forschung die alten hermetischen Nationalgeschichten abgelöst hat.

In diesem Buch wird untersucht, wie Deutsche in den letzten fünf Jahrhunderten weltweit aktiv waren – sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. Ihre Rolle als Händler, Entdecker, Missionare, Ingenieure oder Wissenschaftler zeigt, wie sie durch ihren Einfluss globale Entwicklungen mitgestalteten. So waren deutsche Kaufleute bereits im Mittelalter und in der frühen Neuzeit auf den Märkten Europas, Afrikas und Asiens präsent. Die Hanse, ein mächtiger Zusammenschluss von Handelsstädten, trug wesentlich dazu bei, die deutsche Handelsmacht international zu etablieren.

Doch das Bild ist nicht ausschließlich positiv: Deutsche traten auch in kolonialistischen Kontexten auf, beispielsweise in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia), wo deutsche Kolonialbeamte und Soldaten für Unterdrückung und Gewalt verantwortlich waren. Das Völkermordverbrechen an den Herero und Nama Ende des 19. Jahrhunderts ist ein trauriges Kapitel deutscher Globalgeschichte.

Zudem prägten deutsche Entdecker wie Alexander von Humboldt die Vorstellung der Welt als ein zusammenhängendes Ganzes. Humboldt, der als Wissenschaftler große Teile Südamerikas erforschte, trug wesentlich zum Wissen über Klima, Vegetation und Geografie anderer Kontinente bei. Seine Werke inspirierten Generationen von Wissenschaftlern weltweit und förderten den globalen Wissensaustausch.

Aber auch die Bedeutung der deutschen Auswanderer waren gewaltig für die Entwicklungsprozesse in der gesamten Welt. Die Auswanderung von Deutschen in die Welt war ein bedeutsames historisches Phänomen, das vor allem vom 17. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts anhielt. In dieser Zeit verließen Millionen von Menschen das Gebiet des heutigen Deutschlands, um neue Perspektiven und Lebensräume in anderen Ländern zu finden. Diese Migration hatte weitreichende soziale, wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Auswirkungen auf die Entwicklung vieler Regionen weltweit.

In der Frühzeit, etwa ab dem 17. Jahrhundert begann die deutsche Auswanderung oft aus religiösen Gründen. Besonders während des Dreißigjährigen Krieges (1618–1648) und in den darauffolgenden Jahrzehnten suchten viele Protestanten Zuflucht in anderen Ländern, um Verfolgungen zu entgehen. Länder wie die Niederlande, England und später die britischen Kolonien in Nordamerika wurden bevorzugte Ziele. Die deutschen Migranten trugen dort zur wirtschaftlichen Entwicklung bei, besonders in der Landwirtschaft, und spielten eine Schlüsselrolle beim Aufbau neuer Siedlungen.

Ein prominentes Beispiel sind die sogenannten „Pennsylvania Dutch“ in Nordamerika, die sich ab dem frühen 18. Jahrhundert in der Kolonie Pennsylvania niederließen. Sie brachten ihre landwirtschaftlichen Fähigkeiten mit, die maßgeblich zur Versorgung der expandierenden Kolonien beitrugen. Zudem bewahrten sie ihre Sprache und Kultur, was die kulturelle Vielfalt in den USA bereicherte.

Im 19. Jahrhundert trieb die Industrialisierung viele Deutsche in die Auswanderung. Neben ökonomischen Nöten wie Armut und Überbevölkerung suchten viele bessere Arbeits- und Lebensbedingungen. Zielgebiete wie die Vereinigten Staaten, Brasilien, Argentinien und Australien boten Land, Arbeit und Freiheit. Deutsche Siedler etablierten in diesen Ländern innovative landwirtschaftliche Praktiken, führten moderne Technologie ein und unterstützten den Aufbau von Infrastrukturen wie Eisenbahnen.

In den Vereinigten Staaten waren Deutsche im 19. Jahrhundert die größte Einwanderergruppe. Sie beeinflussten nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung, sondern auch die amerikanische Kultur. Deutsche Unternehmer gründeten Brauereien, Zeitungen und Unternehmen, die bis heute Bestand haben. Auch die deutsche Philosophie, Musik und Literatur fanden ihren Weg in die amerikanische Gesellschaft.

Im Bereich der Wissenschaft und Kultur hatten deutsche Auswanderer einen herausragenden Einfluss. Viele Wissenschaftler, die aus Deutschland emigrierten, trugen zur Weiterentwicklung moderner Wissenschaft bei. Besonders im 20. Jahrhundert, während der Zeit des Nationalsozialismus, verließen zahlreiche Intellektuelle, darunter Albert Einstein, Deutschland und fanden in Ländern wie den USA Zuflucht. Ihre Forschungen revolutionierten die Physik, Chemie, Medizin und viele andere Disziplinen.

Kulturell hinterließen Deutsche weltweit ihre Spuren. Die Verbreitung deutscher Traditionen wie das Oktoberfest, die deutsche Küche und die Weihnachtsbräuche zeigt, wie stark die deutsche Kultur in die Kultur anderer Länder integriert wurde.

Auch politisch hatten deutsche Migranten Einfluss. In den USA gehörten sie zu den frühen Unterstützern demokratischer Bewegungen. In Lateinamerika halfen sie beim Aufbau von Gemeinden und setzten sich für Bildung und soziale Reformen ein. Die deutsche Auswanderung war somit nicht nur ein wirtschaftlicher, sondern auch ein sozialer und politischer Katalysator.

Die deutschen Auswanderer trugen entscheidend zur Entwicklung der Welt bei. Durch ihre Arbeitskraft, ihr Wissen und ihre Kultur beeinflussten sie viele Gesellschaften nachhaltig. Ihre Geschichte zeigt, wie Migration zur Verbindung und gegenseitigen Bereicherung von Nationen beiträgt.

Ein zentraler Fokus des Buches liegt auf der Bewegung von Ideen, Waren und Menschen über nationale und kulturelle Grenzen hinweg. In den letzten fünf Jahrhunderten haben Deutsche sowohl von diesen globalen Strömen profitiert als auch aktiv dazu beigetragen. Ein prägnantes Beispiel ist die Rolle deutscher Unternehmen und Ingenieure während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Deutsche Produkte wie Maschinen, chemische Erzeugnisse oder Konsumgüter wurden weltweit exportiert und brachten Deutschland eine führende Stellung auf dem Weltmarkt ein. Gleichzeitig waren deutsche Ingenieure wie Ferdinand von Zeppelin oder Carl Benz maßgeblich an technologischen Innovationen beteiligt, die die Welt veränderten.

Im intellektuellen Bereich trugen deutsche Denker und Wissenschaftler zur Verbreitung von Ideen bei, die weltweit rezipiert wurden. Philosophen wie Immanuel Kant, Karl Marx und Friedrich Nietzsche beeinflussten nicht nur die europäische Geistesgeschichte, sondern auch Debatten in Asien, Amerika und Afrika. Ebenso verbreiteten sich deutsche kulturelle Errungenschaften, etwa in der Musik, wo Komponisten wie Ludwig van Beethoven, Johann Sebastian Bach und Richard Wagner eine globale Resonanz fanden.

Neben den Deutschen, die ins Ausland gingen, untersucht das Buch auch die Perspektive derjenigen, die nach Deutschland kamen. Nichtdeutsche, die in Deutschland lebten, arbeiteten oder studierten, prägten die deutsche Kultur auf vielfältige Weise. Ein Beispiel hierfür ist die Migration der Hugenotten im 17. Jahrhundert, die nach ihrer Flucht aus Frankreich in Preußen und anderen deutschen Regionen Zuflucht fanden. Sie brachten nicht nur ihre handwerklichen Fähigkeiten und wirtschaftliches Know-how mit, sondern beeinflussten auch die deutsche Gesellschaft kulturell und religiös.

Ein weiteres Beispiel ist die Arbeitsmigration im 20. Jahrhundert, insbesondere in der Zeit des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg. Millionen von Gastarbeitern aus Italien, der Türkei und anderen Ländern kamen nach Deutschland, um in der Industrie zu arbeiten. Diese Menschen trugen entscheidend zum wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands bei, brachten aber auch ihre eigenen kulturellen Praktiken mit, die die deutsche Gesellschaft nachhaltig bereicherten. Heute gehören türkische Restaurants, italienische Cafés und internationale Festivals zum Alltag in Deutschland.

Auch im Bereich der Wissenschaft haben Nichtdeutsche, die nach Deutschland kamen, bedeutende Spuren hinterlassen. Viele internationale Studenten und Wissenschaftler, die an deutschen Universitäten studierten oder forschten, trugen nicht nur zum wissenschaftlichen Fortschritt bei, sondern sorgten auch für einen kulturellen Austausch. Albert Einstein, der in Deutschland geboren wurde, aber später in die USA emigrierte, ist ein Beispiel für die globale Verflechtung deutscher Wissenschaft mit der Welt.

Das Buch stellt ein vielseitiges und buntes Bild von Menschen dar, die auf verschiedene Weise zur Verflechtung Deutschlands mit der Welt beigetragen haben. Zu den Akteuren gehören Händler, die schon im Mittelalter europäische Märkte verbanden, ebenso wie Missionare, die religiöse und kulturelle Ideen in ferne Regionen brachten. Musiker wie Johann Sebastian Bach oder Ludwig van Beethoven trugen deutsche Kultur in die Welt, während Bergbauingenieure im 19. Jahrhundert technische Expertise exportierten.

Hinzu kommen Entdecker wie Alexander von Humboldt, deren Reisen neue geographische und wissenschaftliche Horizonte eröffneten, sowie Soldaten, die in fremden Ländern kämpften und damit oft Konflikte exportierten. Auch die Geschichte der deutschen Emigration – von den Pilgervätern, die sich im 17. Jahrhundert in Nordamerika niederließen, bis zu den Millionen, die im 19. Jahrhundert in die USA auswanderten – zeigt die globale Dimension deutscher Geschichte. Viele dieser Auswanderer hinterließen in ihren neuen Heimatländern deutliche Spuren: Deutsche Siedler in Texas, etwa in Städten wie Fredericksburg, pflegen bis heute ihre deutschen Wurzeln, während deutschstämmige Gemeinschaften in Brasilien oder Argentinien durch Sprache und Kultur Einfluss ausüben.

Auf der anderen Seite stehen Exilierte, die aus politischen, religiösen oder wirtschaftlichen Gründen Deutschland verlassen mussten und weltweit neue Wurzeln schlugen. Zu ihnen zählen etwa die Juden, die während der nationalsozialistischen Herrschaft emigrierten und in den USA, Palästina oder anderen Ländern eine neue Heimat fanden. Viele dieser Exilanten prägten ihre neuen Gesellschaften maßgeblich, etwa in der Wissenschaft, Kunst oder Literatur.

Dieses Buch zeigt auf eindrückliche Weise, dass die Geschichte Deutschlands nicht isoliert betrachtet werden kann. Sie ist vielmehr Teil einer globalen Dynamik, in der Menschen, Ideen und Waren über Grenzen hinweg in Austausch traten und dadurch sowohl Deutschland als auch die Welt veränderten. Die Verflechtung der deutschsprachigen Länder mit der Welt ist eine facettenreiche Geschichte voller Innovationen, kultureller Begegnungen, aber auch Konflikte und Herausforderungen. Sie lädt dazu ein, die deutsche Geschichte nicht nur als nationale Angelegenheit, sondern als ein Kapitel in einer globalen Erzählung zu verstehen.

Der Versuch einer globalen Geschichte der Deutschen ist gelungen; ohne Übertreibung darf „Die Deutschen in der Welt“ als Opus Magnum bezeichnet werden. Man fragt sich, wie es David Balckbourn gelungen ist, diese Massen an Informationen sinnstiftend unter einen Hut bzw. zwischen zwei Buchdeckel zu bringen?!

Einziger Kritikpunkt ist denn auch wirklich der gewaltige Umfang dieser Abhandlung. Man wünschte sich eine konzise Zusammenfassung, eine bündigere Form (auch unter Verzicht auf den wunderbaren Detailreichtum der langen Fassung), die auch für den durchaus interessierten, aber nicht an wissenschaftlichen Details interessierten Laien lesbar ist. Der Textteil dieses Mammutwerkes umfasst 840 Seiten, dem ein über 160 Seiten langer Apparat mit Anmerkungen, Fußnoten, Literaturverzeichnis und Registern folgt.

Deshalb zum Schluss eine Anregung: Eine Taschenbuchausgabe von vielleicht 180 bis 200 Seiten wäre bestens geeignet, um eine multiperspektivische globale Geschichte der Deutschen in der Welt auf dem Stand der modernen Geschichtswissenschaft für die breite Masse und vor allem als Schullektüre für den höheren Geschichtsunterricht verfügbar zu machen.

 

 

Autor: David Blackbourn
Titel: „Die Deutschen in der Welt – Eine globale Geschichte vom Mittelalter bis heute“
Herausgeber: Deutsche Verlags-Anstalt
Gebundene Ausgabe: 1008 Seiten
ISBN-10: 3421048894
ISBN-13: 978-3421048899

 

 

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