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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Christian Hardinghaus: „Die verdammte Generation – Gespräche mit den letzten Soldaten des Zweiten Weltkriegs“

Am: | Dezember 17, 2024

Mein Vater war Jahrgang 1919. Er hatte Glück, im Zweiten Weltkrieg war er Koch an der Front; das rettete ihm wahrscheinlich das Leben – und mir die Existenz. Vom Krieg hat er nicht viel erzählt. Es waren meist dieselben kleinen, sich wiederholenden Anekdoten von Tauschgeschäften mit den Partisanen (Schweine gegen Salz) und anderen herausfordernden Situationen, in denen Improvisation gefragt war. In den Kriegserzählungen meines Vaters gab es keine Weltpolitik, keine Ideologie, sondern nur den Versuch, in diesem Irrsinn zu überleben und zu hoffen, dass es bald vorbei sein würde.

Christian Hardinghaus ist Jahrgang 1978. Er ist Historiker, Journalist und Schriftsteller; sein Schwerpunkt liegt in der Erforschung des NS-Systems; Hardinghaus ist Autor mehrerer Sachbücher und Romane, die sich vorwiegend mit jener dunkelsten Epoche der deutschen Geschichte beschäftigen.

„Die verdammte Generation“, das waren die aktiven Kriegsteilnehmer, jene jungen deutschen Männer, die als Angehörige der Wehrmacht ab 1939 mit dem Überfall auf Polen den Zweiten Weltkrieg anzettelten und die halbe Welt in Brand setzten.

Die meisten Soldaten aus jener Zeit sind längst tot; mein Vater war 1939 mit seinen fast 20 Jahren einer der Jüngsten, die damals gen Osten zogen; heute wäre er 105 Jahre alt.

Dieses Buch erschien als Hardcover bereits 2020; es basiert auf persönlichen Gesprächen, die der Autor „in den letzten vier Jahren“ mit ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht geführt hat; die von ihm Befragten sind „zwischen 88 und 100 Jahren alt“, als sie der Autor trifft.

Was sie erzählen, ist subjektiv gefärbte, nacherzählte Geschichte; oder besser: es sind Geschichten und nicht Geschichte. In der historischen Forschung nennt man das Oral History: Zeitzeugen erzählen, wie sie vergangene Ereignisse erlebt haben. Auf diese Weise kommt man der Vergangenheit deutlich näher als durch die Lektüre einer ganzen Regalwand wissenschaftlicher Abhandlungen mit theoretischen Analysen und Erklärungsversuchen der großen historischen Zusammenhänge.

Natürlich haben solche historiographischen Werke ihre Berechtigung und sind unerlässlich, wenn es um die historische Einordnung der vergangenen Ereignisse geht. Jede Gegenwart interpretiert die Vergangenheit neu und formt daraus ihre je eigene Geschichte. Es ist das Bestreben des Historikers, jene Geschichte erfahrbar zu machen, ein Ziel, was ihm je nach Begabung besser oder schlechter gelingt.

Der Erfolg dieser Bemühungen hängt nicht nur am Schreibtalent des Historikers, sondern auch an der Auswahl der passenden Dokumente und konkreten Beispiele; eine besonders lebensnahe Form der Geschichtsvermittlung sind sogenannte „Ego-Dokumente“, wie Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und eben auch Gesprächsprotokolle.

Mitentscheidend für den Erfolg und die Wissenschaftlichkeit solcher Oral History-Projekte ist aber, das Erzählte nicht unkommentiert zu lassen, sondern die Aussagen möglichst kritisch anhand der vorhandenen historischen Quellen zu überprüfen; nahezu immer entsteht über die Jahrzehnte ein Bias zwischen subjektiver Erinnerung und den realen Ereignissen. Christian Hardinghaus hat gerade bei diesen hier vorliegenden Zeitzeugen-Gesprächen intensive Recherchen betrieben und die Aussagen begleitend kommentiert.

 

Dem Autor war es wichtig, ein möglichst breites Spektrum an Berichten zwischen Kriegsbeginn und Kriegsende in den Erinnerungen der Zeitzeugen abzubilden. Auf diese Weise wird eine weitere Stufe an Multiperspektivität erreicht, mit der das Leben in Zeiten des Krieges aus der Sicht der „einfachen“ Soldaten beschrieben wird.

Das große emotionale Potenzial und die Nähe erzeugende Anschaulichkeit solcher Zeitzeugen-Gespräche hat der Autor dieses Buches selbst erfahren dürfen, als er in intensiven Gesprächen mit Zeitzeugen über 60 Stunden Audiomaterial sammelte; seine Interviewpartner hatten als Soldaten aktiv den Zweiten Weltkrieg, jenen „schlimmsten Krieg der Weltgeschichte“ hautnah miterlebt: „Nichts hat mich so nah an die Realität des Krieges herangebracht wie diese intensiven Gespräche“ mit den Zeitzeugen.

Eine ähnliche Erfahrung wird jeder Leser dieses Buches machen; die bewegenden Geschichten dieser letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs zeigen, wie konkret und die gesamte Existenz des Einzelnen verändernd jene elementaren Erfahrungen entgrenzter Gewalt gewesen sein müssen, von denen die Gesprächspartner des Historikers berichten. Auch Jahrzehnte nach diesem Krieg sind die traumatischen Erlebnisse in den Zeitzeugen lebendig; sie leben auch in den Nachkommen weiter als versteckte Traumata. Vieles wurde verdrängt oder im Nachhinein uminterpretiert, um mit dem Erlebten fertig zu werden; auch so funktioniert die Erzählung der eigenen Lebensgeschichte. Jener Kriegsgeneration blieb auch gar nichts anderes übrig, denn eine post-traumatische psychotherapeutische Betreuung gab es damals nicht.

Und so lesen wir also die Geschichten von Otto, Wigand, Fritz, Karl-Friedrich und acht weiteren Männer, die in verschiedenen Phasen des Krieges im Einsatz waren; es sind die Erinnerungen von Männern, die den Krieg aus einer anderen Perspektive erlebten als die Generäle oder Offiziere; diese Männer waren Schützen, Gefreite, bestenfalls Unteroffiziere. Es sind Stimmen aus der Masse der Soldaten der Wehrmacht.

Dem Autor ist es wichtig, genauer hinzusehen und vorschnelle Verurteilungen zu vermeiden. In seiner Einleitung befasst er sich auch mit der Aufarbeitungs-Politik in der frühen Bundesrepublik. Bereits in den Nürnberger Prozessen kamen die anklagenden Alliierten zu der Überzeugung, dass es keine General-Schuld des deutschen Volkes geben könne, sondern die Verantwortung für die Kriegsverbrechen vor allem in den Führungspositionen der Wehrmacht und anderen Organisationen des Dritten Reiches zu finden sei. Heute wissen wir dank der historischen Forschung längst, dass auch die Wehrmacht als Institution und Werkzeug der Nationalsozialisten am Vernichtungskrieg beteiligt war.

Pauschalisierungen waren stets schnell zur Hand, vor allem, als die 68er-Generation den endgültigen Bruch mit den schweigenden Vätern suchte, um sich selbst als schuldlose Generation zu inszenieren: Alle Soldaten der Wehrmacht seien schuldig gewesen, alle Soldaten sind Mörder usw. – Hardinghaus mahnt an mehreren Stellen zur Differenzierung, und er weist auch zurecht darauf hin, dass die Alltagsgeschichte der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg noch längst nicht aufgearbeitet ist. Den Grund dafür, dass sich bislang nur vergleichsweise wenige Historiker mit dieser Alltagsgeschichte beschäftigten, liegt in der unfasslichen Grausamkeit und Gewaltigkeit des Holocausts, die es erforderten, sich zunächst und nahezu ausschließlich um dieses schlimmste Verbrechen aller Zeiten zu kümmern und seine historischen Zusammenhänge möglichst lückenlos aufzudecken.

Hardinghaus leistet mit seinen Zeitzeugen-Berichten der letzten lebenden Wehrmacht-Soldaten eine wichtigen Beitrag zur historischen Aufarbeitung der Alltagsgeschichte jener deutschen Soldaten des Zweiten Weltkriegs; diese Aufarbeitung ist auch und gerade heute wichtig; sie muss zu einer multiperspektivischen Betrachtung der deutschen Vergangenheit während des Dritten Reiches führen und deutlich machen, dass pauschale Verurteilungen eben gerade keinen Lerneffekt erzeugen, sondern zu kurz greifen. Nur wer die Vergangenheit verstehen lernt, wer nicht pauschalisiert, sondern differenziert, wird auch in die Lage versetzt, sich jenen neuen pauschalen Lösungsangeboten der Rechten kritisch entgegenzustellen. Es geht hier natürlich nicht um Relativierungen wie „Es war ja nicht alles schlecht“, sondern um einen geweiteten Blick auf die Vergangenheit.

Wenn man begreift, was es bedeutete, in einem totalitären Staat wie dem Dritten Reich als Soldat an der Front zu sein und in einem Weltkrieg das eigene Überleben zu sichern, kann man auch die markigen Sprüche und die einfachen Parolen der neuen Rechten leichter entzaubern.

Aus diesem Blickwinkel ist dieses Buch nicht nur ein historisch interessant, sondern auch politisch relevant für die Gegenwart und die Zukunft unseres Selbstverständnisses.

 

Autor: Christian Hardinghaus
Titel: „Die verdammte Generation – Gespräche mit den letzten Soldaten des Zweiten Weltkriegs“
Herausgeber: Piper Taschenbuch
Taschenbuch: 336 Seiten
ISBN-10: 349232083X
ISBN-13: 978-3492320832

 

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