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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Judith Hermann: „Wir hätten uns alles gesagt“

Am: | Dezember 14, 2024

Im Jahr 2022 wurde die Schriftstellerin Judith Hermann zur Teilnahme an den Frankfurter Poetikvorlesungen eingeladen. Jene Vorlesungsreihe ist für die meisten AutorInnen ein willkommener Anlass, das eigene Schreiben zu reflektieren. Warum und wozu schreibe ich? Was will ich mit meinen Texten bewirken? Will ich überhaupt bei meinen Lesern etwas bewirken oder hat mein Schreiben einen anderen Sinn, verfolge ich andere Ziele? – Diese und ähnliche Fragen stellen sich jedem Schreibenden, doch nur selten wird man – beispielsweise durch eine Einladung zu einem Vortrag oder einer Vorlesungsreihe – dazu aufgefordert und von außen dazu gedrängt, über das eigene künstlerische Schaffen nachzudenken und Auskunft zu geben.

Nicht selten führt dies dazu, dass Schreibende mehr oder weniger tiefe Einblicke in private Arbeits- und Lebensverhältnisse geben; manchmal geht es sogar so weit, dass die Künstler ihrem Publikum schonungslos offen gegenübertreten und ihre psychologische Verfasstheit sowie die persönlichen Zusammenhänge zwischen Leben und Werk offenbaren.

Bei Judith Hermann und ihrem literarischen Werk ist dies geradezu selbstverständlich, denn in ihm finden die Leser überwiegend autobiographische Erzählungen, die nur leicht an der Oberfläche kaschiert wurden, um die Figuren nicht auf den ersten Blick mit den realen Vorbildern zu identifizieren.

Judith Hermann erzählt in dieser Vorlesung vom „Schweigen und Verschweigen im Schreiben“, was nicht dasselbe ist. Sie hat diesen Text in einer Zeit verfasst, der für uns alle mit einzigartigen, teils traumatischen Erfahrungen verbunden ist. 2021/22 war die Zeit der Corona-Pandemie und ihrer einschneidenden Quarantäne-Maßnahmen, eine Zeit der Ausgehsperren und Kontaktverbote, weil man sich nicht anders zu helfen wusste, bevor es wirksame Impfstoffe gab. All dies und andere private Ereignisse flossen in diesen sehr persönlichen und ehrlichen Text ein, in dem die Autorin eben gerade nichts verschweigt, sondern die eigene Verletzlichkeit sichtbar macht, ihre psychischen Probleme und den langen Weg durch eine Psychoanalyse in einer Bildhaftigkeit beschreibt, welche die Lektüre zu einer sehr persönlichen Erfahrung werden lässt.

Erwartungsgemäß habe sie, so die Autorin, das Schreiben über das Schreiben vermieden; stattdessen „haben sich Menschen und Situationen aufgezeigt, die das Schreiben beeinflusst haben“. Doch eigentlich zeigt uns Judith Hermann gerade auf diese Weise, wie ihre Texte entstehen und aus welchen Quellen sie schöpft, um aus dem realen Leben Geschichten zu filtrieren.

Für wen ist die Lektüre dieser Vorlesung über das „Schweigen und Verschweigen im Schreiben“ geeignet? Wer sollte sich die Zeit nehmen, diesen spannenden und ehrlichen Text zu lesen und zu studieren? – In erster Linie wird es ein Text einer Schreibenden für Schreibende sein, also im Grunde doch eine Art Werkstatt-Bericht einer der bekanntesten deutschen Autorinnen der Gegenwartsliteratur. Natürlich werden auch die Leser ihrer Bücher durch die Lektüre dieses Buches dem Menschen und der Autorin Judith Hermann auf eine ganz neue und persönliche Art näherkommen. Für den Einen oder die Andere wird diese Vorlesung vielleicht sogar erst den Weg zu Hermanns Romanen und Erzählungen eröffnen, wer weiß?!

„Wir hätten uns alles gesagt“ ist ein lesenswertes und in seiner Offenheit bemerkenswertes Buch; denn selten wurde so ehrlich und so reflektiert über das eigene Schreiben und das Schweigen und Verschweigen in den eigenen Texten nachgedacht und berichtet. – Dieses Buch ist sehr nahe am Leben und lässt uns eine Autorin kennenlernen, die uns zeigt, wie ihr künstlerisches Schaffen aus ihren Lebenserfahrungen schöpft und wie beides untrennbar miteinander verbunden ist.

 

 

 

 

Autor: Judith Hermann
Titel: „Wir hätten uns alles gesagt“
Herausgeber: FISCHER Taschenbuch
Taschenbuch: 192 Seiten
ISBN-10: 3596710367
ISBN-13: 978-3596710362
 

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