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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Johannes Franzen: „Wut und Wertung – Warum wir über Geschmack streiten“

Am: | November 13, 2024

Über Geschmack lässt sich trefflich streiten. Der Kunstgeschmack und die Debatte über „gute Kunst“ sind Themen, die seit Jahrhunderten für hitzige Diskussionen sorgen. Die Vorstellung davon, was Kunst ist und was sie sein soll, ist nicht nur von persönlichen Vorlieben geprägt, sondern auch von kulturellen, historischen und sozialen Faktoren. Während der Kunstgeschmack oft als subjektiv angesehen wird, gibt es eine lange Tradition von Versuchen, objektive Kriterien für „gute Kunst“ festzulegen. Dabei zeigt sich, dass diese Kriterien ständig neu verhandelt werden – ein Beweis für die dynamische und komplexe Natur des Kunstbegriffs.

Der Literaturwissenschaftler Johannes Franzen hat sich intensiv mit der Frage beschäftigt, warum wir über Geschmack streiten und ob diese Streitkultur – falls es sich hierbei wirklich um eine „Kultur“ handelt – durch die „sozialen Medien“, in denen jene Auseinandersetzungen vorzüglich stattfinden, positiv oder negativ beeinflusst wird.

Warum streiten wir also über den Geschmack? – Wenn wir den Geschmack unseres Gegenübers anzweifeln und von dessen mangelnder Qualität überzeugt sind, so geht es nur in zweiter Linie um die Kunstwerke bzw. Künstler selbst; in erster Linie bemängeln wir die Person selbst und ihren schlechten (Kunst-)Geschmack. Doch warum ist es für uns so wichtig, dass der Andere einen guten Geschmack haben sollte?! Könnte er oder sie uns nicht egal sein?

Was hierbei mehr oder weniger deutlich zutage tritt, ist eine Form subjektiver Intoleranz. Wer nicht denselben Geschmack hat wie wir selbst, der ist uns suspekt: Die intellektuelle Auseinandersetzung mit Menschen, die einen Faible für Volksmusik haben, Trachten lieben und konservativen Ansichten vertreten, was die Familie, die Fortpflanzung und die Fortbewegung betrifft, dürften beispielsweise für eine junge, emanzipierte Klimaaktivistin aus der Großstadt eine echte Herausforderung sein (und umgekehrt natürlich auch). – Toleranz kann eben auch ihre Grenzen haben …

In abgeschwächter Form offenbaren Ungeduld und Intoleranz gegenüber Andersdenkenden aber einen wahren Kern: Der Streit über den guten, den richtigen Geschmack ist für uns Identität stiftend; der gemeinsame Geschmack fördert die soziale Identität der Gruppe. Wer diese Geschmacksnoten nicht teilt, gehört nicht zur Gruppe; es ist das ewig sich wiederholende Spiel von Inklusion und Exklusion, von Einbeziehung in und Ausschluss aus der Gruppe.

Dieser Abgleich und die Suche nach einem gemeinsamen Geschmack fungieren als eine soziale Brücke zwischen uns und den Anderen. Wenn also – frei nach Kant – die Betrachtung eines schönen Kunstwerks in uns ein „interesseloses Wohlgefallen“ auslösen kann, so geht es hierbei um ein „Geschmacksurteil“, das wir über dieses Kunstwerk fällen. Im Gegensatz zu logischen Urteilen, die sich auf Wissen und Begriffe stützen, ist das Geschmacksurteil „interesselos“ und unabhängig von Nutzen oder persönlicher Vorliebe. Es ist ein subjektives Urteil, das jedoch zugleich Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erhebt – Kant spricht von einem „subjektiv-universellen“ Urteil. In diesem Sinne ist Kants Geschmacksurteil eine Verbindung von Subjektivität und einem Anspruch auf Allgemeinheit – eine Idee, die für die Ästhetik bis heute bedeutend ist. – Und genau hier liegt der Hase im Pfeffer …

Kunstgeschmack wird oft als zutiefst subjektiv empfunden. Menschen reagieren unterschiedlich auf Farben, Formen, Themen und Techniken. Was für den einen berührend oder tiefgründig ist, mag für den anderen schlicht langweilig oder gar beleidigend erscheinen.

Im günstigsten Fall dürfte ein „falscher“ Kunstgeschmack lediglich ein Schulterzucken auslösen, doch der Autor zeigt in seinem klugen und unterhaltsam geschriebenen Buch, dass ein „schlechter“ Geschmack auch ganz andere Reaktionen hervorrufen kann: von Wut bis hin zu heftigen Konflikten mit Toten und Verletzten.

In elf Abschnitten spürt Johannes Franzen der Frage nach, was gute und schlechte Kunst voneinander unterscheidet, ob und wie die digitalen Medien zu einer Emanzipation des Publikums geführt haben und welchen Einfluss eine ästhetische Erziehung auf unsere „Geschmacksurteile“ hat.

Die schwindende Dominanz eines verbindlichen „Kanons“ in Kunst und Literatur, der öffentliche Druck und die bewusste Verweigerung demselben gegenüber sowie die seltsame Freude an missglückter Kunst sind ebenso Themen dieser interessanten Abhandlung wie die Verbindung und Trennung von Kunst und Moral oder die politische Funktion von Kunst in einer Zeit der polarisierten Fronten.

Johannes Franzen ist nicht nur Mitarbeiter am Germanistischen Institut der Universität Siegen, sondern spricht und publiziert auch regelmäßig zu kulturellen Themen, u.a. im Deutschlandfunk-Kultur, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der taz oder auf Zeit Online. – Schon allein diese kurze Auflistung beweist den guten Geschmack des Autors, was die Auswahl seines kulturellen und medialen Umfeldes betrifft.

„Wut und Bewertung“ ist nicht nur ein Gang durch die Kulturgeschichte der Kontroversen und Skandale aus Literatur, Film und Musik, sondern liefert uns auch eine kluge Analyse der gegenwärtigen Streitkultur, die auch als eine handliche Gebrauchsanweisung oder als eine brauchbare Handreichung im Umgang mit den Zumutungen unserer Zeit dienen kann.

Nach der Lektüre ist man schlauer als zuvor und fühlt sich gut gewappnet für kommende Auseinandersetzungen in Sachen Kultur. Kunst löst starke Emotionen aus; die Art und Weise, wie wir uns mit anderen Menschen über unsere unterschiedlichen und oft gegensätzlichen Emotionen austauschen, entscheidet darüber, ob dieser Austausch produktiv oder destruktiv ist. Doch nur durch den Austausch, nur durch Kommunikation kommen wir als Menschen auf der Suche nach einem gesellschaftlichen Konsens zu einer gemeinsamen Lösung: zu einem Kompromiss. Und genau diese Praxis macht auch den Kern der Demokratie aus.

 

 

 

 

Autor: Johannes Franzen
Titel: „Wut und Wertung – Warum wir über Geschmack streiten“
Herausgeber: S. FISCHER
Gebundene Ausgabe: 432 Seiten
ISBN-10: 3103976208
ISBN-13: 978-3103976205

 

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