Simon Sahner und Daniel Stähr: „Die Sprache des Kapitalismus“
Am: | Juni 17, 2024
„Sprache ist der Schlüssel zur Welt“, lautet ein berühmtes Zitat von Wilhelm von Humboldt. Die Grenzen unserer Wahrnehmung beginnen dort, wo wir keine Begriffe mehr für das haben, was wir wahrnehmen. Oder wie Ludwig Wittgenstein gesagt hat: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt. “
Nur durch Sprache lässt sich sinnvoll kommunizieren. Wir benutzen Sprache, um uns auszutauschen und unsere Wahrnehmungen mit denen anderer abzugleichen.
Wittgenstein prägte auch den Begriff des „Sprachspiels“, das wir alle spielen. Die Sprache erhält hierbei eine doppelte Funktion; denn mit Hilfe von Sprache wird in der Sprache ausgehandelt, was Sprache aussagt. Mit anderen Worten müssen wir uns zunächst über ein gemeinsames Vokabular verständigen, bevor wir sinnvolle und allgemein verständliche Aussagen treffen können. Das Ganze ähnelt einem Spiel:
Unter einem Sprachspiel (engl. language game) wird allgemein eine sprachliche Äußerung verstanden, die innerhalb einer bestimmten Verwendungssituation auftritt. — Und genau eine solche Verwendungssituation ist die uns überall umgebende Welt des Kapitalismus. Darum geht es im vorliegenden Buch.
Die beiden Autoren, Simon Sahner und Daniel Stähr finden ihre gemeinsame Schnittmenge in dem feuilletonistischen Online-Magazin 54books. Sahner ist Literatur- und Kulturwissenschaftler sowie Herausgeber von 54books; Stähr ist Ökonom und Essayist und schreibt u.a. die Kolumne Geldgeschichten für 54books.
Der Kapitalismus, ein wirtschaftliches System, das auf Privateigentum und Gewinnmaximierung beruht, hat nicht nur die Märkte und Gesellschaften tiefgreifend beeinflusst, sondern auch die Sprache, die wir täglich verwenden. Die „Sprache des Kapitalismus“ durchdringt unser Denken und Handeln und prägt unsere Wahrnehmung von Wert, Erfolg und menschlichen Beziehungen.
Ein markantes Merkmal der kapitalistischen Sprache ist die Reduktion von Menschen auf wirtschaftliche Rollen und Funktionen. Begriffe wie „Humankapital“, „Arbeitnehmer“ und „Konsumenten“ verdeutlichen diese Sichtweise. Menschen werden als Ressourcen betrachtet, die genutzt und optimiert werden müssen. Diese Terminologie entmenschlicht Individuen und fördert ein Verständnis von Menschen als austauschbare Zahnräder in der großen Maschinerie der Wirtschaft. Dadurch wird der intrinsische Wert des Individuums, abseits seiner ökonomischen Funktion, marginalisiert.
Die Sprache des Kapitalismus fördert auch eine Mentalität des ständigen Wettbewerbs und der Selbstoptimierung. Begriffe wie „Leistungsgesellschaft“, „Wettbewerbsfähigkeit“ und „Effizienz“ prägen unser Denken und Handeln. Sie suggerieren, dass der Wert eines Menschen hauptsächlich durch seine Produktivität und seinen ökonomischen Erfolg bestimmt wird. Diese Perspektive erzeugt einen enormen Druck auf Individuen, sich kontinuierlich zu verbessern und ihren Wert ständig zu beweisen. Dies kann zu Burnout, Stress und einer generellen Unzufriedenheit führen, da das ständige Streben nach mehr oft unerreichbare Ideale verfolgt.
Darüber hinaus beeinflusst die kapitalistische Sprache unsere Wahrnehmung von sozialen Beziehungen und Gemeinschaften. Begriffe wie „Networking“ und „soziales Kapital“ verdeutlichen, wie soziale Interaktionen zunehmend unter dem Gesichtspunkt ökonomischer Vorteile betrachtet werden. Freundschaften und Beziehungen werden oft danach bewertet, welchen Nutzen sie bringen können. Dies kann zu einer Instrumentalisierung zwischenmenschlicher Beziehungen führen, bei der der wahre menschliche Kontakt und das authentische Miteinander in den Hintergrund treten.
Ein weiteres Problem der Sprache des Kapitalismus ist ihre Tendenz, wirtschaftliche Ungleichheiten zu verschleiern und zu legitimieren. Begriffe wie „Freier Markt“, „Chancengleichheit“ und „Verdienst“ suggerieren, dass Erfolg allein auf individueller Leistung basiert und jeder die gleichen Chancen hat. Diese Rhetorik ignoriert jedoch die strukturellen Ungleichheiten und die verschiedenen Startbedingungen, die Menschen in der Gesellschaft haben. Sie dient dazu, bestehende Machtstrukturen zu rechtfertigen und zu zementieren, indem sie die Verantwortung für ökonomischen Erfolg oder Misserfolg allein auf das Individuum abwälzt.
Die Sprache des Kapitalismus hat tiefgreifende Auswirkungen auf unser kollektives Bewusstsein und unser Selbstverständnis. Sie prägt unsere Werte, unsere sozialen Interaktionen und unsere Sicht auf die Welt. Es ist wichtig, diese Sprache kritisch zu hinterfragen und sich der subtilen Machtstrukturen bewusst zu werden, die sie aufrechterhält. Nur durch eine bewusste Reflexion und eine Veränderung der Sprache können wir beginnen, alternative Perspektiven und Lebensweisen zu entwickeln, die menschlichere und gerechtere Gesellschaften fördern.
Insgesamt zeigt sich, dass die Sprache des Kapitalismus weit mehr ist als ein neutraler Kommunikationsmechanismus. Sie ist ein mächtiges Instrument, das dazu beiträgt, bestimmte Weltanschauungen zu propagieren und soziale Ordnungen zu festigen. Ein kritischer Umgang mit dieser Sprache ist notwendig, um die tief verwurzelten Ideologien des Kapitalismus zu erkennen und zu hinterfragen und um Wege zu finden, eine gerechtere und menschlichere Gesellschaft zu gestalten.
„Die Sprache des Kapitalismus“ ist ein flott geschriebenes Buch über die Sprache unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems. Es zeigt, wie tief verwurzelt unsere Denkweisen und Ausdrucksmöglichkeiten mit ihm sind. Sprache ist niemals neutral oder folgenlos: Sprache schafft Realitäten und festigt Machtstrukturen. Die Sprache des Kapitalismus prägt unmerklich unser Bild der Realität und beeinflusst auch unsere eigenen Ausdrucksmöglichkeiten.
Die beiden Autoren haben am Beispiel unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems gezeigt, wie Sprache unsere Lebenswelten strukturiert und gleichzeitig die Machtverhältnisse konsolidiert. Ein spannendes und erhellendes Sachbuch, das nicht zuletzt auch als gesellschaftskritische Lektüre für SchülerInnen der höheren Klassen geeignet sein dürfte. — Aber auch alle anderen Leser werden von der Lektüre dieses unterhaltsam und kenntnisreich geschriebenen Buches profitieren.
Autor: Simon Sahner u. Daniel Stähr
Titel: „Die Sprache des Kapitalismus“
Herausgeber: S. FISCHER
Gebundene Ausgabe: 304 Seiten
ISBN-10: 3103975937
ISBN-13: 978-3103975932
Tags: begriffe > kapital > kapitalismus > kapitalistisch > kapitalistische werte > macht > machtstruktur > moral > rezension Die Sprache des Kapitalismus > rezension Simon Sahner Daniel Stähr > rezension Simon Sahner Daniel Stähr Die Sprache des Kapitalismus > sprache > Sprache des Kapitalismus > sprachspiel > werte > wertvorstellungen > wirtschaftssystem