Valentin Groebner: „Gefühlskino — Die gute alte Zeit aus sicherer Entfernung“
Am: | Juni 16, 2024
Der Begriff „Nostalgie“ ist ein großer und unbestimmter Behälter, den man mit einer ganzen Reihe von abstrakten Worten füllen kann, die alles und nichts bedeuten können: „Autonomie“, „Freiheit“, „Verantwortung“, „Gedächtnis“, „Solidarität“ usw. Es gibt also nicht die eine Nostalgie, sondern beliebig viele verschiedene Arten von Nostalgie; ein nostalgisches Gefühl, schreibt der Historiker Valentin Groebner, ist „die Sehnsucht nach Rückkehr in die Vergangenheit, ist eine Kombination aus freundlicher Erinnerung und schmerzlichem Vermissen“.
Man erkennt die Vergangenheit daran, dass sie „fremd und bizarr“ ist; in der Rückschau — beispielweise beim Betrachten alter Familienfotos — erkennen wir uns selbst zwar wieder, aber oft nur optisch: Was wir damals gedacht und gemacht, wie wir uns gekleidet und welche Frisur wir hatten — all das erscheint uns seltsam „fremd“ und teilweise sogar „bizarr“. Mit anderen Worten sind wir heute Andere als damals, und so würden wir auch die damalige Welt, wäre sie plötzlich wieder unsere heutige, entsprechend anders wahrnehmen und einschätzen.
War die „gute alte Zeit“ also vielleicht gar nicht so gut und schön, wie wir sie uns gerne vorstellen? — Dieser Frage geht der Historiker Valentin Groebner in seinem neuen, sehr persönlichem Buch nach. Anhand seiner eigenen Biographie nimmt er uns mit auf eine Gedankenreise in die späten 1970er und die 1980er Jahre, in jene wilde Zeit des linken Widerstands, der Bürgerbewegungen und Massendemonstrationen sowie in den politischen Kosmos der Autonomen und der Aktivisten.
Valentin Groebner war in jener Zeit selbst politisch aktiv und zählte sich zu den Autonomen aus dem linken Spektrum. Es ist ihm ein wenig peinlich, darüber zu reden, aber für dieses Buch blickt er schonungslos zurück auf jene Zeit. Dadurch gewinnt seine Untersuchung der Nostalgie jedoch deutlich an Stärke; die eigene Involviertheit des Autors verleiht dem Text an Würze und lässt die Lektüre zu einem imaginären Gedankenaustausch zwischen Autor und Lesern werden.
Die Erinnerung an jene „gute alte Zeit“ der Revolte weckt in Groebner vor allem eins: starke Gefühle: „Wenn ich so starke Gefühle hatte, wieso bin ich dann nicht in der Gegenkultur als dem einzig richtigen Leben im Falschen geblieben?“ fragt er provokant. Die Antwort ist, dass — wie eigentlich immer im Leben — plötzlich etwas Anderes, Stärkeres, diese alten, starken Gefühle überstrahlt hatte: in Groebners Fall eine neue Liebe und die schlichte Tatsache, dass der Adrenalinrausch der politischen Aktionen mit der Zeit nachließ.
Valentin Groebner, geboren 1962 in Wien, lehrt als Professor für Geschichte des Mittelalters und der Renaissance an der Universität Luzern. — „Mittelalter“ beschreibt vielleicht am besten das Alter des Autors (und auch des Rezensenten!), und eine „Renaissance“ erfährt auch heute wieder die Rede von der „guten alten Zeit“, die eigentlich niemals so gut war, wie sie rückwärtsgewandt immer erträumt wird …
Die allgemeinen Klagen über „verlorene Werte, unüberschaubar gewordene Beschleunigung und verdüsterte Zukunftsaussichten“ sind „kollektive Affekte“; ihnen selbst und ihren „medialen Erscheinungsformen“ spürt der Autor in diesem Buch nach. Schonungslos zeichnet Groebner anhand seiner eigenen Vergangenheit nach, welche psychischen Mechanismen und Deutungsmuster zu jenen Gemeinschaftsgefühlen führten, die (unter anderem) jene Protestbewegungen der 1980er Jahre stabilisierten.
Die „Bausteine“ für den starken Zusammenhalt der Gegenkultur identifiziert Groebner schnell und präzise: eine große Portion Selbstinszenierung, dazu die Strategie der Selbstviktimisierung (die freiwillige Einnahme der Opfer-Rolle) und eine eher auf neurochemischen Prozessen basierende Angstlust — also die Lust an der eigenen Angst in Ausnahmesituationen, Straßenkämpfen und Massendemonstrationen.
Jene „Lust an der eigenen Angst“ in brenzlichen Situationen sollte man jedoch nicht persönlich nehmen, schreibt Groebner: „Die Nebennierenhormone Adrenalin und Noradrenalin, die so starke Empfindungen und körperliche Reaktionen in mir auslösen — Angst und Wut, Verzweiflung und Attacke —, lassen sich neunzig Sekunden nach ihrer Ausschüttung nicht mehr im Blut nachweisen, sie verschwinden. Alles, das danach kommt, erzeuge ich selber, mit Hilfe der Wunschmaschine in meinem Kopf.“
Ein gemeinsamer Gegner hilft ebenso dabei, die Gruppe enger zusammen zu schweißen, wie das überlegene Gefühl, als Einzige die Lage zu durchschauen und die Speerspitze einer revolutionären Bewegung zu sein. — „Feinde braucht man, um, ganz autonom, man selber zu sein. Je mehr Feind, desto mehr Selbstgefühl.“
Schon 1921 hatte Robert Musil notiert: „Überlegenheits- und Untergangsbewusstsein gehören zusammen“. Wer sich als Opfer übermächtiger Verhältnisse stilisiert und vom Untergang (der Gesellschaft, des Systems, der Welt) überzeugt ist, kann eine seltsame Lust an diesem Untergang entwickeln, wenn er/sie nur die passenden MitstreiterInnen findet, die seine Sicht auf die Dinge bestätigen und mit ihm zusammen in den Kampf ziehen (gegen Ungerechtigkeit, Klimakatastrophe, Kapitalismus, Autokratien, …).
Gemeinsam arbeiten jene Gruppen an einem „Gefühlskino“, an einer kollektiven Selbstvergewisserung der eigenen Ziele und einer „synchronisierten Empfindung der Vergangenheit“. Der regelmäßige Abruf dieser gemeinsamen Gefühle ist entscheidend für den Zusammenhalt der Gruppe; denn „jede affektive Gemeinschaft wird nicht nur vom Weltuntergang oder von den heimtückischen Feinden bedroht, sondern auch vom Verblassen der gemeinsam empfundenen unmittelbaren und existenziellen Bedrohung.“
„Nostalgie“ — griechisch von nostos, Rückkehr, und algos, Schmerz, bezeichnete ursprünglich das „Heimweh“ griechischer Söldner nach dem Ort ihrer Herkunft; die an „Nostalgie“ leidenden Krieger wurden zunehmend kraftlos und krank, sie litten körperlich an ihrem Heimweh. Erst im frühen 19. Jahrhundert verließ der Begriff den klinischen Kontext: Angesichts einer sich immer schneller verändernden Welt, die durch Industrialisierung und technischen Fortschritt zunehmend vielen Menschen fremd erschien, entstand eine Sehnsucht nach der verlorenen Vergangenheit, nach der Zeit, aus der man kam.
Die Nostalgie kann den Blick auf die Gegenwart so sehr verstellen kann, dass die eigene „Sehschärfe“ für die Realität verloren geht. Groebner prägt hierfür den hübschen Begriff der Retropie, angelehnt an die Fachbegriffe der Augenheilkunde Myopie (Kurzsichtigkeit) oder Hyperopie (Weitsichtigkeit). Wer an Retropie leidet, nimmt die Welt „durch eine Brille, ein Konzept, ein Schema von gestern“ wahr; bei einer solchen Sichtweise handelt es sich oft um eine kollektive Form von Wahrnehmungsstörung.
„Die Vergangenheit, so das retropische Versprechen, wird als optimierte Version ihrer selbst in der Zukunft wiederhergestellt werden.“ Diese Vorstellung, dass es ausreichte, die alten Slogans und Schlagworte einfach in die Gegenwart zu importieren, weil sie ja bereits „die Wahrheit von morgen enthalten“, vergleicht der Autor mit einer „Art genießerische Selbstmassage mit alten Texten und vertrauten Bildern“.
Groebner sagt, wie es geht: „Aus dem riesigen Materialfundus der Vergangenheit wird nachträglich eine ideale Welt zurechtgesampelt, und in die — und nur in die — will man zurück.“ Dieses Prinzip der selektiven Erinnerung (und nationalen Erinnerungskultur) wird sowohl von Nationalstaaten angewandt als auch von jedem von uns selbst: Wenn wir uns an (unsere) Vergangenheit erinnern, dann sampeln auch wir uns eine ideale Welt zurecht, indem wir das Angenehme erinnern und das Unangenehme großzügig aus dem Blickfeld schieben. So funktioniert Erinnerung, und auf solche Weise betreiben wir alle, was man als Seelenhygiene bezeichnen kann; das mag zwar aus psychologischer Sicht gesund sein, aber es entspricht in keiner Weise einer objektiven Sicht auf die Dinge.
War die Welt der alten Bundesrepublik denn wirklich einfacher, klarer, besser? — Schaut man zurück, so stellen sich schon bald einige Fragen: „Bürgerkriegsszenarien, Terrorwarnungen, gewalttätige Demonstrationen: So war sie eben auch, die angebliche Beschaulichkeit der alten Bundesrepublik.“ Wie gerne wird all das ausgeblendet; die eigene Erinnerung unterliegt einem starken Bias.
Aber es kommt noch schlimmer: Auch die eigene Gegenwart „ist immer unscharf und flauschig, eine Art lauwarmer, bewegter, dreckiger Schaum“. Wenn wir ehrlich sind, rasen wir doch alle mehr oder weniger schnell durch einen dichten Nebel, orientieren uns an den diffusen Lichtern vor uns und hoffen auf besseres Wetter, damit wir irgendwann mehr Sicht auf das bekommen, was vor uns liegt. — Wie gut tut dann der kurze Blick in den Rückspiegel, der uns zeigt, wo wir gerade waren und was bereits hinter uns liegt.
Am Ende dieses lehrreichen und nachdenklich stimmenden Buches resümiert der Autor: „Mein Blick zurück ans Ende der 1970er und den Beginn der 1980er Jahre ist notwendigerweise persönlich geraten. Ich bin kein zuverlässigerer Zeitzeuge als andere, im Gegenteil: Aus sicherer Entfernung betrachtet, erscheinen mir die damaligen kollektiven Empfindungen von Untergangsfurcht und Erlösungswünschen ziemlich rätselhaft und erklärungsbedürftig.“
Der Blick zurück in die eigene Vergangenheit führte auch dazu, dass sie dem Autor „sehr fremd“ vorkommt und dass sie auch „ein bisschen muffig“ riecht, was nicht nur daran liegt, dass er für die Recherche in alten Broschüren, Pamphleten und Briefen blätterte. Es ist auch der intellektuelle Umgang mit altem, schablonenhaftem Gedankengut, mit einer Weltsicht, die allzu kontrastreich nur in „Gut“ und „Böse“ trennte und die Zwischentöne übersah.
„Angstlust und Weltuntergangsszenarios, Selbstviktimisierung und das Vergnügen an der Schuld der anderen prägen auch heute die politischen Debatten.“ Solche individuellen und kollektiven Strategien der Selbstinszenierung können den Blick auf die Realität schnell verbauen, was lösungsorientierte Debatten eher verhindert als ermöglicht. Letzten Endes macht es eben einen Unterschied, ob man die Vergangenheit nostalgisch verklärt oder ob man versucht, aus der Geschichte zu lernen. — Dies ist die nüchterne Erkenntnis am Ende dieses Buches.
Autor: Valentin Groebner
Titel: „Gefühlskino — Die gute alte Zeit aus sicherer Entfernung“
Herausgeber: S. FISCHER
Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
ISBN-10: 3103975996
ISBN-13: 978-3103975994
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