Andreas Schwab: „Freiheit, Rausch & schwarze Katzen — Eine Geschichte der Bohème“
Am: | Juni 7, 2024
Die Geschichte der Bohème in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis ins frühe 20. Jahrhundert ist ein faszinierendes Kapitel der europäischen Kulturgeschichte. Sie bezieht sich auf eine subkulturelle Bewegung, die sich in den großen Metropolen Europas, insbesondere in Paris, entwickelte und eine Gruppe von Künstlern, Schriftstellern, Musikern und Intellektuellen umfasste, die einen unkonventionellen Lebensstil pflegten und die gesellschaftlichen Normen ihrer Zeit herausforderten.
Die Bohème entstand in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die industrielle Revolution Europa veränderte. Mit der Urbanisierung und dem wirtschaftlichen Wandel kamen neue soziale Klassen und Spannungen auf. Künstler und Intellektuelle, die sich oft am Rande der Gesellschaft bewegten, suchten nach neuen Ausdrucksformen und Lebensweisen, die im Widerspruch zu den bürgerlichen Werten der aufstrebenden Mittelschicht standen.
Paris war das Epizentrum der Bohème. Das Viertel Montmartre wurde zum Synonym für das Leben der Bohémiens. Hier lebten und arbeiteten viele der bekanntesten Künstler und Schriftsteller jener Zeit, darunter Henri de Toulouse-Lautrec, Émile Zola, und Paul Verlaine. Diese Gemeinschaft wurde von einem Idealismus geprägt, der sich gegen die Kommerzialisierung der Kunst und die konventionellen Werte der Gesellschaft wandte.
Die Bohème-Bewegung hatte einen enormen Einfluss auf die Kunst und Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Mitglieder der Bohème lehnten traditionelle Kunstformen und -techniken ab und experimentierten mit neuen Stilen und Ausdrucksweisen. Dies führte zur Entstehung der Impressionismus-Bewegung in der Malerei, angeführt von Künstlern wie Claude Monet und Edgar Degas, die alltägliche Szenen und das Spiel des Lichts in ihren Werken einfingen.
In der Literatur brach die Bohème mit den Konventionen des Realismus und Naturalismus und entwickelte neue narrative Formen und Themen. Autoren wie Arthur Rimbaud und Stéphane Mallarmé experimentierten mit Sprache und Struktur, um das Innenleben und die subjektive Erfahrung darzustellen. Diese literarischen Innovationen ebneten den Weg für die spätere Symbolismus-Bewegung.
Das Leben der Bohème war geprägt von Freiheit und Kreativität, aber auch von Unsicherheit und Armut. Viele Bohèmiens lebten in prekären Verhältnissen, oft ohne feste Einkünfte und mit unzureichender Unterkunft. Sie bevorzugten ein Leben abseits der gesellschaftlichen Zwänge und waren bereit, materielle Sicherheit für künstlerische Freiheit zu opfern.
In Cafés und Bars wie dem berühmten Café de Flore oder dem Les Deux Magots trafen sich die Bohèmiens, um über Kunst, Philosophie und Politik zu diskutieren. Diese Orte wurden zu wichtigen Zentren der intellektuellen und künstlerischen Auseinandersetzung und halfen, die Ideen und Werke der Bohème zu verbreiten.
Während Paris das Herz der Bohème-Bewegung war, hatte sie auch internationale Auswirkungen. In Berlin entwickelte sich in den 1890er Jahren eine lebhafte Bohème-Szene um den Schriftsteller und Dramatiker Gerhart Hauptmann. In Wien beeinflussten die Ideen der Bohème Künstler wie Gustav Klimt und Egon Schiele, die die Grenzen der traditionellen Kunst herausforderten und die Wiener Moderne prägten.
Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs erlebte die klassische Bohème einen Niedergang. Die Schrecken des Krieges und die sich verändernden sozialen und politischen Realitäten führten zu einer Desillusionierung und einem Rückzug vieler Künstler aus dem öffentlichen Leben.
Gleichzeitig transformierte sich die Bohème-Bewegung und nahm neue Formen an. In den 1920er Jahren entstand in Paris eine neue Generation von Künstlern und Intellektuellen, die oft als „verlorene Generation“ bezeichnet wird. Diese Gruppe, zu der auch Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald gehörten, setzte die Tradition der Bohème fort, jedoch mit einem stärkeren Fokus auf die Suche nach Sinn und Identität in einer nachkriegsgeprägten Welt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bohème der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis ins frühe 20. Jahrhundert eine Bewegung war, die tiefgreifende Veränderungen in der Kunst und Kultur Europas bewirkte. Durch ihre Ablehnung traditioneller Werte und ihre Hingabe an die kreative Freiheit schufen die Bohèmiens eine neue Form des künstlerischen Ausdrucks, deren Einfluss bis heute nachwirkt.
Der Schweizer Historiker Andreas Schwab hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht, so über den Monte Verità und die Landkooperative Longo maī. Bei C. H. Beck ist 2021 sein bislang letztes Buch erschienen: „Zeit der Aussteiger. Eine Reise zu den Künstlerkolonien von Barbizon bis Monte Verità“.
In „Freiheit, Rausch & schwarze Katzen“ erzählt der Autor die Geschichte der Bohème von ihren Anfängen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs. Jene Geschichte wird nicht nur erzählt, indem die wichtigsten Künstlerinnen und Künstler der Bohème skizziert werden; Schwab nimmt vor allem auch die Orte in den Blick — Cafés, Kneipen und Künstlertreffs —, an denen sich die Bohème traf und nicht zuletzt auch von Neugierigen bestaunt werden konnte.
Die alternativen Lebensmodelle der Bohème sowie ihre Kritik an den bestehenden Verhältnissen und Moralvorstellungen werden in Schwabs unterhaltsam und lebensnah geschriebenem Buch durch zahlreiche Anekdoten belebt; eine Fülle an Illustrationen macht die Vergangenheit im wahrsten Sinne anschaulich. Auf diese Weise gelingt es dem Autor, jene künstlerische Subkultur für die Leserschaft lebendig zu machen.
Trotz der guten Lesbarkeit dieser Kulturgeschichte der Bohème genügt sie auch wissenschaftlichen Anforderungen, wenngleich der Anhang mit Anmerkungen und Literaturverzeichnis mit knapp dreißig Seiten relativ knapp ausfällt. Die wahre Zielgruppe dieses schön gestalteten, gebundenen und mit Schutzumschlag und Lesebändchen ausgestatteten Buches ist ganz klar die breite Leserschaft, welche von dieser turbulenten Umbruchphase in Kunst, Literatur und Lebensart fasziniert ist; für sie ist diese Publikation geschrieben, und bei ihr dürfte sie auch den größten Anklang finden.
Autor: Andreas Schwab
Titel: „Freiheit, Rausch & schwarze Katzen — Eine Geschichte der Bohème“
Herausgeber: C.H.Beck; 1. Edition (15. Februar 2024)
Gebundene Ausgabe: 297 Seiten
ISBN-10: 3406814352
ISBN-13: 978-3406814358
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