Ramón Reichert: „Selfies — Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur“
Am: | Juni 3, 2024
Die Selfie-Kultur, die in den letzten Jahren durch die Verbreitung von Smartphones und sozialen Medien explosionsartig gewachsen ist, stellt ein komplexes Phänomen dar, das tief in die moderne digitale Bildkultur eingreift. Während Selfies oft als harmlose Form der Selbstdarstellung betrachtet werden, werfen sie bei genauerer Betrachtung bedeutende Fragen über Narzissmus, Authentizität und die Auswirkungen auf die soziale Interaktion auf.
Der Begriff „Selfie“ beschreibt ein Selbstporträt, das typischerweise mit einer Smartphone-Kamera aufgenommen und anschließend in sozialen Netzwerken geteilt wird. Diese Praxis hat sich von einer gelegentlichen Aktivität zu einer omnipräsenten sozialen Norm entwickelt. Millionen von Selfies werden täglich auf Plattformen wie Instagram, Facebook und Snapchat gepostet. Der zugrunde liegende Impuls scheint oft die Suche nach Bestätigung und Aufmerksamkeit zu sein. Likes, Kommentare und Shares fungieren als digitale Währungen, die den Wert des eigenen Bildes und damit indirekt des eigenen Selbst bestätigen.
Ein zentrales Problem der Selfie-Kultur ist der Vorwurf des Narzissmus. Kritiker argumentieren, dass die ständige Selbstthematisierung und das Streben nach Anerkennung die Nutzer egozentrisch und oberflächlich machen. Diese Sichtweise wird durch Studien gestützt, die einen Zusammenhang zwischen exzessivem Selfie-Posten und narzisstischen Persönlichkeitsmerkmalen aufzeigen. Besonders besorgniserregend ist dies bei Jugendlichen, die sich in einer wichtigen Phase der Identitätsentwicklung befinden und stark von externen Bewertungen beeinflusst werden können.
Ein weiterer Aspekt, der kritisch betrachtet werden sollte, ist die Frage der Authentizität. Selfies sind selten spontane Schnappschüsse; sie sind oft sorgfältig inszeniert, bearbeitet und gefiltert. Diese kuratierten Darstellungen erwecken ein verzerrtes Bild der Realität und setzen unrealistische Standards für Schönheit und Erfolg. Dies kann zu einem erhöhten Druck führen, ständig perfekt und glücklich zu erscheinen, was sowohl das Selbstwertgefühl als auch die psychische Gesundheit beeinträchtigen kann. Menschen vergleichen sich unweigerlich mit diesen idealisierten Bildern und fühlen sich möglicherweise unzulänglich oder unzufrieden mit ihrem eigenen Leben.
Ramón Reichert forscht und lehrt als Senior Researcher am Department für Kulturwissenschaften der Universität für Angewandte Kunst in Wien. In diesem Buch widmet er sich der Selfie-Kultur aus zwei Perspektiven; im ersten Teil behandelt er die vielfältigen Bildpraktiken, die zur Kommodifizierung des Selbst betragen, und im zweiten Teil werden vor allem die bildpolitischen Kollektive und ihre Praktiken in Augenschein genommen.
Die Selfie-Kultur beeinflusst auch die Art und Weise, wie wir soziale Interaktionen wahrnehmen und pflegen. Echte zwischenmenschliche Beziehungen könnten darunter leiden, dass mehr Zeit und Energie darauf verwendet wird, das perfekte Selfie zu erstellen und online zu präsentieren, anstatt sich auf reale Interaktionen zu konzentrieren. Dies führt zu einer Paradoxie: Obwohl Menschen durch soziale Medien theoretisch stärker vernetzt sind, fühlen sich viele isolierter und einsamer als je zuvor.
Trotz dieser Kritikpunkte sollte die Selfie-Kultur nicht pauschal verurteilt werden. Sie bietet auch positive Aspekte, wie die Möglichkeit zur Selbstentfaltung und -reflexion. Für manche Menschen kann das Teilen von Selfies ein Mittel sein, um Selbstbewusstsein zu stärken und Gemeinschaften mit ähnlichen Interessen oder Anliegen zu finden. Außerdem ermöglicht die digitale Bildkultur eine demokratisierte Form der Selbstdarstellung, die früher nur durch traditionelle Medien zugänglich war.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Selfie-Kultur ein vielschichtiges Phänomen ist, das sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf Individuen und die Gesellschaft hat. Während sie Möglichkeiten zur Selbstentfaltung und Vernetzung bietet, birgt sie auch Gefahren von Narzissmus, Unauthentizität und sozialer Isolation. Ein bewusster und reflektierter Umgang mit dieser Praxis ist daher essentiell, um die negativen Auswirkungen zu minimieren und die positiven Aspekte zu maximieren.
Reicherts Abhandlung über Selfies als Ausdrucksform der Selbstthematisierung in der digitalen Bildkultur ist vor allem für Studierende der Kulturwissenschaften interessant, die sich mit der komplexen Thematik digitaler Bildkulturen beschäftigen (wollen); den berüchtigten durchschnittlich „interessierten Laien“ dürfte die abstrakte Sprache dieser wissenschaftlichen Analyse jedoch schnell überfordern.
Autor: Ramón Reichert
Titel: „Selfies — Selbstthematisierung in der digitsalen Bildkultur“
Herausgeber: transcript
Taschenbuch: 202 Seiten
ISBN-10: 3837636658
ISBN-13: 978-3837636659
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