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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Eugen Szatmari: „Was nicht im Baedeker steht — Berlin“

Am: | September 29, 2021

Warum kann nicht ein Berliner über Berlin schreiben? Kennt er seine Heimatstadt nicht viel besser und intimer als jeder Auswärtige?! Sind ihm nicht die entlegensten Winkel und die abstrusesten Geschichten bekannt, welche er dem Lesepublikum präsentieren könnte?!

Es liegt wohl eine einfache Wahrheit in der Erkenntnis, dass der außenstehende Beobachter meistens viel besser die charakteristischen Eigenschaften eines Volkes oder auch einer Stadt erfassen kann, als der Einheimische. Die schlichte Tatsache der mangelnden Entfernung vom Objekt seiner Betrachtung macht es dem Einheimischen viel schwerer, wenn nicht geradezu unmöglich, objektiv über seinen Untersuchungsgegenstand zu schreiben. Seine Nase stößt ans Objekt und seine Optik ist verzerrt. Und ein letzter Punkt: Der außenstehende Beobachter schreibt für Seinesgleichen, denn der Berlin-Tourist kommt ja in aller Regel woanders her.

Eugen Szatmari kam auch woanders her, nämlich aus Budapest. Geboren 1892, schrieb er in den 1930er Jahren viele Reportagen für das deutschsprachige Prager Tageblatt und lebte von 1925 bis 1933 in Berlin. 1927 verfasste er den vorliegenden Berlin-Reiseführer und versorgte den interessierten Leser mit nahezu allem, „was nicht im Baedeker steht“. Der Baedeker war, das wissen wir, der führende Reiseführer für all jene, welche sich seriös über ein touristisches Ziel, seine kulturellen und städtischen Besonderheiten informieren wollten. Das ist heute nicht anders als 1927.

Jene im Piper-Verlag erschienene Reihe („Was nicht im Baedeker steht“) war äußerst beliebt und erfolgreich. Berlin machte den Anfang, und es folgten noch weitere sechzehn Bände bis ins Jahr 1938. Man verstand sich als eine Art alternative Reiseführer, welche den Touristen auch mal abseits der ausgetretenen Pfade zu Örtlichkeiten führten, die überwiegend von Einheimischen besucht wurden. Kuriositäten inbegriffen. Auch Nachtleben und Halbseidenes. Eben alles, was der offizielle Baedeker nicht einmal mit spitzen Finger angefasst hätte.

Szatmaris literarischer Stil passte hervorragend zu den teils spektakulären, teils süffisanten Informationen, die er für seine neugierigen Leser bereithielt. Mit ihm tauchen wir ein in die bunte und schillernde Welt des Amüsements, der kulinarischen und anderen leiblichen Genüssen, wir besuchen Vergnügungen aller Art, lernen, wo man am besten, am edelsten oder auch am günstigsten essen geht in Berlin 1927. Die Berliner Boheme und die Bälle der Reichen und Schönen, die Kaschemmen und Nachtklubs, die Kinos, Theater und Konzertsäle, die Wochenend-Vergnügungen und Ausflugsziele im Berliner Umland — all das und noch viel mehr wird uns mit diesem schönen Reprint der Originalausgabe von 1927 jetzt endlich wieder zugänglich gemacht!

Nicht zuletzt der internationale Erfolg des Mehrteilers „Berlin Babylon“ (nach den Kriminalromanen von Volker Kutscher) hat das allgemeine Interesse am Berlin der Zwanziger Jahre beflügelt. Das pralle Leben und der Tanz auf dem Vulkan faszinieren die Zuschauer und Leser bis heute; und auch der Berlin-Tourismus lebt ganz gut von jener Rückbesinnung und Sehnsucht nach den „Goldenen Zwanzigern“, von denen mittlerweile eigentlich alle wissen, dass die für die allermeisten Menschen gar nicht so golden waren.

Wie dem auch sei! Eugen Szatmaris Klassiker „Berlin — Was nicht im Baedeker steht“ ist eine spannende, witzige, lehrreiche, faszinierende und unterhaltsame Lektüre für alle Berlin-Fans und Eingeborenen! Gleichzeitig halten wir hier ein schillerndes Zeitdokument in den Händen, das lange Zeit nur antiquarisch und zu horrenden Preisen erhältlich war. Der Milena-Verlag hat sich — mit Erfolg — große Mühe bei der Gestaltung gegeben, welche der Originalausgabe nachempfunden wurde. Die feste Bindung, der rote Seitenschnitt, die Typografie und die vielen zeitgenössischen Illustrationen machen die Lektüre zu einem wahren kulturellen Genuss.

 

Autor: Eugen Szatmari
Titel: „Was nicht im Baedeker steht — Berlin“
Herausgeber: Milena
Gebundene Ausgabe: 260 Seiten
ISBN-10: 3903184667
ISBN-13: 978-3903184664

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