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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Stefan Geyer (Hg.): Die Kunst des Gehens – Ein literarischer Wegbegleiter“

Am: | August 17, 2021

Gehen scheint eine der banalsten Tätigkeiten zu sein, doch es ist viel mehr, als nur den einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich im Raum fortzubewegen. Gehen ist eine Kunst, wenn man versteht, diese Kunst zu praktizieren! Zugegeben, das klingt ein wenig nach Zen, als meditative Aufhebung aller Sorgen und Wünsche durch die Vergegenwärtigung des Gegenwärtigen. Und in der Tat kann das meditative Gehen einen ähnlich beglückenden Effekt auf die Seele haben wie eine fernöstliche spirituelle Übung.

„Ich gehe. Mit diesem einfachen Satz besitzen wir den Schlüssel zu einem erfüllteren, intensiveren und nicht zuletzt gesünderen Leben.“ schreibt der Herausgeber Stefan Geyer in seinem Vorwort zu dieser umfangreichen Textsammlung. Jeder kennt das aus eigener Erfahrung: Ist man draußen in der Natur, ist man allein und kann den Kopf heben und sich umschauen, ohne durch ein Gespräch oder andere störende Impulse abgelenkt zu werden, dann wird sich schon bald ein Gefühl der Leichtigkeit bemerkbar machen. Mit jedem weiteren Schritt lassen wir den Alltag und die Sorgen hinter uns, schauen nur noch nach vorn und nehmen die Welt um uns herum — und uns selbst — viel stärker wahr als sonst.

Die deutsche Sprache ist voller Metaphern, die mit dem Gehen verbunden sind: Wir lassen die ausgetretenen Pfade hinter uns; im Gehen sind wir frei; viele Gedankengänge lassen sich auch im Gehen besser in Gang setzen (…), und auch der berühmte Wanderer nach Syrakus, Johann Gottfried Seume, wusste schon: „Es würde vieles besser gehen, wenn man mehr ginge.“

Es geht also ums Gehen! Wie bei den schön gebundenen und erschwinglichen Bücher im Marixverlag üblich, redet man nicht lange im den heißen Brei herum, sondern schenkt dem Leser eine Vielzahl von kurzen und längeren Textpassagen, die sich alle mehr oder weniger ums Gehen drehen.

Weil die vielen Texte das Inhaltsverzeichnis nur unübersichtlich machen würden, beschränkt man sich auf die Unterteilung in vier Abschnitte mit den neugierig machenden Zitaten „Man fällt dabei von einem Fuß auf den andern“; „Langsam durch belebte Straßen zu gehen“; „Lichte, freie Weite in allen Richtungen“ sowie „Meile um Meile ging ich, ohne den geringsten Anflug von Anstrengung“.

Genau so dürfte es auch den meisten Lesern gehen, sofern sie dieses schöne Kompendium nicht hungrig verschlingen, sondern lieber häppchenweise genießen. Natürlich könnte man auch viele dieser kurzen Texte hintereinander und in einem Rutsch lesen „ohne den geringsten Anflug von Anstrengung“; aber dann hätte man den eigentlichen Sinn des Gehens nicht verstanden: Denn man geht ja nicht um anzukommen, sondern um zu gehen.

Manch einer kann das besser; der typische Berliner kann es eher nicht. Dieser Überzeugung war jedenfalls der Flaneur Franz Hessel, der die Unvereinbarkeit des berüchtigten Berliner Tempos mit der Beschaulichkeit des flanierenden Gehens bemängelte: „Hier geht man nicht wo, sondern wohin. Es ist nicht leicht für unsereinen.“

Wer dieses Büchlein richtig liest, wird sich in Zukunft anders zu Fuß bewegen. Und wer weiß, vielleicht wird er sogar zum Flaneur? Dann wird er die hohe Kunst, „langsam durch belebte Straßen zu gehen“ erlernen und auf diese Weise ganz leicht aus dem Höllentempo unserer Zeit entfliehen! Das ruhige und besinnliche Gehen durch belebte Straßen und liebliche Landschaften ist immer nur einen Schritt entfernt!

In diesem Buch findet der Leser eine Menge an nützlichen Anregungen und darf aus den Lebensbeschreibungen und Geschichten aus allen Zeiten lernen, wie man das Gehen zu einer Kunst entwickeln kann. Haben Sie also den Mut und gehen Sie das Wagnis ein. Sie werden vielfach belohnt und werden nach der Lektüre verstehen, dass das scheinbar Einfachste oft das Schwierigste ist. Doch jede Schwierigkeit, die sich in den Weg stellt, lässt sich mühelos umgehen! Man muss sich nur trauen — und manchmal auch den Dingen ihren Gang lassen. Dann wird’s schon gehen!

Während der Lektüre sollten Sie lieber sitzen. Aber es wird sie wahrscheinlich nicht lange auf dem Sitz halten. Sie werden gehen wollen. Weil man im Gehen nicht nur die Welt entdecken, sondern oft auch besser denken kann! Das wussten schon die alten Griechen, die antiken Philosophen-Schulen der Stoa (Wandelhalle) und der Peripatetiker!

 

Autor: Stefan Geyer (Hg.)
Titel: Die Kunst des Gehens – Ein literarischer Wegbegleiter“
Gebundene Ausgabe : 256 Seiten
ISBN-10 : 3737411204
ISBN-13 : 978-3737411202

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