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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Therese Schneider: „Berliner Spaziergänge — Die schönsten Wege durch die Stadt“

Am: | Juli 25, 2018

Es wäre vielleicht nicht ganz richtig, Berlin als die Stadt der Flaneure zu bezeichnen; diesen Ehrentitel hat natürlich Paris verdient, und doch hat das Flanieren auch in Berlin eine lange Tradition. Allen voran war es Franz Hessel, der mit seinem Buch Spazieren in Berlin (1929) ein „Lehrbuch der Kunst, in Berlin spazieren zu gehen“ geschrieben und der eigenen Flanerie ein Denkmal gesetzt hat. Gleich zu Beginn beschreibt Franz Hessel, worauf es beim Flanieren wirklich ankommt: „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der andern, es ist ein Bad in der Brandung.“

Im Zusammenhang mit dem Flanieren in Berlin darf natürlich auch der Hinweis auf Walter Benjamin nicht fehlen, welcher von der hohen Kunst sprach, sich in der eigenen Stadt zu verlaufen und der sich schon als Kind nicht selten „in die asphaltenen Bänder der Straße hoffnungslos verstrickt“ hatte, wie er in seiner Berliner Kindheit um 1900 schrieb. Ebenfalls Erwähnung finden müsste an dieser Stelle aber auch Siegfried Kracauer, der als Flaneur und Soziologe sowohl in Berlin als auch in Paris die Straßen ziellos durchstreifte und in diesem Straßengewirr und Häuserlabyrinth den „Text der Stadt“ zu lesen versuchte.

Aber ist es nicht viel zu hoch angesetzt und übertrieben, eine solche intellektuelle Haltung an die Betrachtung eines frischen Textes aus dem Jahr 2018 anzulegen, der jetzt als Buch im Verlag Berlin-Brandenburg erschienen ist und den vielversprechenden Titel Berliner Spaziergänge — Die schönsten Wege durch die Stadt trägt?

Die Autorin Therese Schneider ist die Tochter von Rolf Schneider, einst Mitglied der Gruppe 47, sehr erfolgreicher Schriftsteller und Dramatiker in der DDR und seit den 1970er Jahren auch einer ihrer kritischen Stimmen; dieses intellektuelle Milieu dürfte auch an ihr nicht spurlos vorüber gegangen sein. Therese Schneider ist aber vor allem Grafikerin und Buchgestalterin sowie Autorin mehrerer Reiseführer für Berlin und Brandenburg. Zuletzt hat sie zusammen mit ihrem Vater im Verlag Berlin-Brandenburg den schönen Band Literatouren in Brandenburg publiziert.

Nun lädt sie uns auf insgesamt neun Berliner Spaziergänge ein, welche die Stadt aus ganz verschiedenen und neuen Blickwinkeln zeigen sollen. In ihrem Vorwort nimmt Therese Schneider ganz ausdrücklich auf Franz Hessel Bezug und erklärt es als den Versuch ihres Buches, in heutiger Zeit „an Hessels Verfahren anzuschließen“. Das gemächliche Tempo des Spaziergängers verheißt eine beschauliche und gleichwohl intensive Begehung des Stadtraums, die dem schlendernden Schritt des Flaneurs ziemlich nahekommt.

Allein die in den Spaziergängen ausgerollte Agenda der zu absolvierenden Stationen widerspricht dann vielleicht doch der Grundregel des Flanierens, sich ziellos durch die Straßen zu bewegen und sich treiben zu lassen von der eigenen Neugier und den Dingen, die einem als Flaneur begegnen.

Gleichwohl scheint die Grundidee eines Spazierens durch die Metropole verlockend und wird auch gleich in die Tat umgesetzt. Hier das Ergebnis des Selbstversuchs:

Die Ortsangaben, das während des Spaziergangs vermittelte geschichtliche Hintergrundwissen, die Auswahl der zu besichtigenden Orte, die Karten — all das ist sehr schön und beanstandungslos richtig. Allerdings stellt sich schon beim ersten Spaziergang ein seltsames Gefühl ein, was sicherlich nicht zuletzt daran liegt, dass hier keine fremde Stadt besichtigt wird, sondern die seit Jahrzehnten bekannten Orte der eigenen Heimatstadt. Insofern ist dieser Selbstversuch sicherlich nicht repräsentativ für die Erfahrungen, die ein Tourist im Umgang mit diesem Buch machen wird. In ihrem Vorwort wendet sich die Autorin nicht explizit an den Berlin-Besucher, und in diesem Sinne schließt sie also auch den Berliner nicht explizit aus. Auch er ist eingeladen, seine Stadt auf den Spaziergängen neu zu entdecken.

„Wir haben nichts Feuilletonistisch-Schöngeistiges angestrebt, sondern einen praktikablen Reiseführer“ schreibt sie weiter. Nun, das ist dieses Buch auf jeden Fall: ein praktikabler Reiseführer. Es führt uns durch diese Stadt, die dazu verdammt ist, „immerfort zu werden und niemals zu sein“, wie schon Karl Scheffler in seinem 1910 erschienenen Buch Berlin — ein Stadtschicksal bemerkte.

Therese Schneider führt uns kenntnisreich und zielsicher durch die Berliner Bezirke. Der reich illustrierte Band ist mit zahlreichen Fotos geschmückt und macht einen ordentlichen Appetit, Berlin mal wieder zu Fuß zu besichtigen. Zu Fuß ist es doch sowieso am besten, denn nur so kann man mit allen Sinnen genießen und Neues entdecken. Wem dann irgendwann die Füße zu schwer werden, der steigt einfach in die nächste Straßen-, S- oder U-Bahn und lässt sich fahren.

Jeder Spaziergang soll einen halben bis zu einem ganzen Tag beanspruchen. Vielleicht ist ja die schöne Zeit der Sommerferien, wenn die halbe Stadt in fernen Ländern ist, am besten geeignet, um diese neun Spaziergänge auszuprobieren. Gerade jetzt lässt sich die Stadt am besten genießen! Also raus aus der Wohnung, raus aus dem Haus und los geht´s!

 

 

Autor: Therese Schneider
Titel: „Berliner Spaziergänge — Die schönsten Wege durch die Stadt“
Taschenbuch: 172 Seiten
Verlag: bebra verlag
ISBN-10: 3814802330
ISBN-13: 978-3814802336

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