Gerhard Sälter, Manfred Wichmann (Hg.): „Am Rand der Welt — Die Mauerbrache in West-Berlin in Bildern von Margret Nissen und Hans W. Mende“
Am: | April 5, 2018
Wenn man in West-Berlin aufgewachsen ist, so gleicht dieses Buch einer Zeitreise in die Zeit vor 40 Jahren. Als wäre man wieder an denselben Ort zurückgekehrt, an dem man am Ende der 1970er Jahre stand, zurückgekehrt zu jenen immer wieder gleich und doch immer auch ein wenig anders aussehenden Brachflächen in Mauernähe.
Gekonnt fangen die Bilder von Margret Nissen und Hans W. Mende jene melancholische Grundstimmung ein, die damals die ganze Halbstadt prägte. Das Leben hatte sich von den Mauerstreifen zurückgezogen, hatte Brachen und Ruinen hinterlassen, die nur von Gestalten aus den gesellschaftlichen Rändern bewohnt oder für Aktionen aller Art genutzt wurden, die anderswo keinen Platz fanden.
Als Jugendlicher mit 16 oder 17 Jahren (Ende der 1970er) habe ich ebenfalls solche Fotos gemacht: schwarzweiß, selbst entwickelt und im heimischen Fotolabor vergrößert. Durch die Hinterhöfe des alten SO 36 bin ich damals mit meiner Spiegelreflexkamera geschlichen, habe auch immer die Bereiche in der Nähe der Mauer als besonders interessant empfunden. So sind damals Bilder entstanden, die heute seltsam aus der Zeit gefallen zu sein scheinen, genau so wie diese Bilder in dem vorliegenden Bildband aus dem Ch. Links-Verlag.
Es sind Dokumente einer Stadt im Wartezustand. Die Weltpolitik hatte Anfang der 1960er Jahre auf die große Pause-Taste gedrückt und alle weiteren Entwicklungen zum Stillstand verurteilt. Berlin war fortan eine Stadt außerhalb der Weltgeschichte; insgeheim wartete man auf den Fall der Mauer und auf die Wiedervereinigung, zumindest noch in den 1960er Jahren. Dann arrangierte man sich mit der Mauer, fand sogar Gefallen an der Rede von der Frontstadt und daran, dass man in West-Berlin fortan in einem Freiluftlabor und in einem geschützten Biotop lebte.
Die Stadt suchte sich ihren Platz im Weltvergleich und fand ihn. Berlin war ein bisschen so wie ein seltsamer alter Onkel, der leicht schrullig daherkam; die Stadt öffnete ihre Türen für alle, die anders waren, einfach nur Spaß wollten oder Subkultur suchten oder einfach nur kein Geld hatten.
Lässt man die Fotos dieses schön gestalteten und mit einem schlauen Nachwort versehenen Bildbandes eine Weile auf sich wirken, dann kann man eintauchen in jene längst vergangene und noch vom Rauch der vielen Ofenheizungen im Osten und Westen ergrauten Atmosphäre. Auf vielen Fotos sieht man verlassene Fabrikgebäude oder Bahngelände — heute würde man von „lost places“ sprechen — und man sieht die Weite jener weitgehend ungenutzten Stadtlandschaften. — Wie viel Platz wir damals hatten! Wie wenig los war auf den Straßen!
Nicht ohne eine leise Wehmut — auch in Gedanken an jene schöne Jugendzeit, die wir damals in den späten 1970er Jahren hatten, blättert man durch dieses Buch und wandert in Gedanken von den Innenstadt-Bezirken zu den äußeren Randlagen West-Berlins — bis dort nach draußen, wo wirklich das Ende der Welt war.
Am Rand der Welt war West-Berlin damals gleich in mehrfachem Sinne. Zum einen natürlich in seiner geografischen Randlage als Teil des Westens mitten auf dem Staatsgebiet der DDR; zum anderen aber auch geopolitisch, denn mit ihrem Viermächte-Status war die geteilte Stadt einfach Nebenschauplatz der Weltpolitik, selbst wenn die großen Konflikte des Kalten Krieges immer auch in Berlin ausgetragen bzw. an dieser Stadt verhandelt wurden.
In unserem märkischen Dorf war also nichts los, und wir waren alle heilfroh, dass es so war. Denn uns gehörte die Kunst, die Subkultur und vor allem der Nimbus einer trutzigen Burg des Widerstands gegen alles, was spießig und allzu kapitalistisch war. Darin ähnelten wir uns den Brüdern und Schwestern im Osten, zumindest ideologisch waren wir uns nicht feindlich gesinnt, doch natürlich spreche ich jetzt nur für meine Generation, die mit der Mauer im Rücken (oder vor der Nase) aufgewachsen und für die sie zu einer Selbstverständlichkeit geworden war.
Am Rand der Welt ist demnach auch und zuallererst ein Buch für die jungen Leser, für die Nachgeborenen, denen weder die Mauer noch eine geteilte Stadt etwas sagt; für jene also, das geteilte Berlin (auf welcher Seite auch immer) nicht mehr kennengelernt haben.
Aber auch für die älteren West-Berliner ist es ein schönes Erinnerungsbuch, das die ganz eigene Atmosphäre der Mauerstadt einfängt, ohne (wie so oft) den Hammer der Anklage zu schwingen, sondern einfach Bestandsaufnahme ist, ganz dokumentarisch und unsentimental.
Autor: Gerhard Sälter, Manfred Wichmann (Hg.)
Titel: „Am Rand der Welt — Die Mauerbrache in West-Berlin in Bildern von Margret Nissen und Hans W. Mende“
Gebundene Ausgabe: 128 Seiten
Verlag: Ch. Links Verlag
ISBN-10: 3962890025
ISBN-13: 978-3962890025
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