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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Maurizio Bettini: „Wurzeln — Die trügerischen Mythen der Identität“

Am: | März 8, 2018

Nichts ist so „präsent, ja so symptomatisch für die heutige Zeit wie die ‚kulturellen Wurzeln‘. Und sie werden je nach Bedarf und Opportunität ausgewählt und dekliniert.“
Dies ist das Resümee eines kleinen Büchleins zum Thema Wurzeln, das im Verlag Antje Kunstmann erschienen ist. Was damit gemeint ist, soll im Folgenden erklärt werden.

Maurizio Bettini ist ein italienischer Philologe; er leitet das Institut für Anthropologie der antiken Welt und ist Professor für klassische Philologie an der Universität Siena. Er beschäftigt sich intensiv mit der Frage, ob es einen Zusammenhang gibt zwischen unseren Wurzeln, unserer Tradition und unserer Identität.

In den vergangenen Jahren waren wir Zeitzeugen eines historischen Ereignisses, dem massenhaften Exodus von Menschen aus den Kriegsgebieten im Nahen Osten nach Zentraleuropa. Die mediale Omnipräsenz dieser Entwicklungen hat in vielen Teilen der Bevölkerung für Verunsicherung gesorgt, vor allem in jenen Schichten, die man mit den Merkmalen „sozial benachteiligt“ oder „prekär“ bezeichnet. Zu Unrecht werden die Flüchtenden als eine weitere Bedrohung des eigenen niedrigen Status angesehen, und die Verwendung von Metaphern, die aus der Welt der Naturgewalten entlehnt sind (Ströme, Schwemme, Flut), versuchen die scheinbare Realität der drohenden Gefahr zu untermauern.

Im Zuge dieser und anderer Migrationsbewegungen sind nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa, die sogenannten identitären Bewegungen auf dem Vormarsch. Als Sammelbecken verschiedener politischer Ausrichtungen verbindet diese Identitären die Vorstellung von einer christlich-abendländischen Leitkultur, die seit Jahrtausenden gewachsen ist, nun aber im Angesicht der morgenländischen Flüchtlingsströme und durch eine zunehmende Überfremdung der eigenen Bevölkerung bedroht ist.

In Italien sieht man sich mit denselben Problemen konfrontiert wie bei uns. Maurizio Bettini hat sich nun, was für einen Philologen naheliegend ist, mit der Sprache beschäftigt, welche in den populistischen Parolen zum Einsatz kommt, und hierbei einige interessante Entdeckungen gemacht, die er in diesem Buch präsentiert.

Oft wird von Populisten und xenophoben Politikern das Bild der kulturellen Wurzeln gebraucht. Wurzeln wachsen aus dem Boden, sie sind fest mit ihm, mit der Muttererde verankert. Wurzeln bieten die Grundlage, und aus ihnen erwachsenen große und kräftige Bäume. — Es ist jene Naturmetapher der vertikalen Grundierung, der Verankerung im Boden, der hier zum Einsatz kommt und über die Sprache Beständigkeit und Verbundenheit vermitteln soll.

Ein ähnliches Bild ist die Metapher vom Gipfel. Sie findet vor allem Verwendung in Verbindung mit den alten Griechen und Römern, von denen wir (vermeintlich) abstammen. „Herkunft (oder Deszendenz, vom lateinischen descendere, herabsteigen, herunterkommen, abstammen) bezeichnet eine Verwandtschaft in absteigender Linie.“ Es gibt ein oben (die alten Griechen, unsere Vorbilder, Väter und Ahnen) und ein unten (uns Abkömmlinge, Kinder). Übernehmen wir dieses Bild, so gehören wir zu jener Familie, die ihre Abstammung auf die „alten Griechen und Römer“ zurückführen kann; alle Anderen, die von außen kommen, gehören nicht dazu und werden niemals unsere Entwicklungsstufe der direkten Nachkommenschaft erreichen.

Der Autor spricht im Zusammenhang mit den vertikalen Metaphern der Wurzeln und des Gipfels von einem „Dispositiv der Autorität“: „Ist dieses Dispositiv der Autorität erst einmal etabliert, gibt es nur eine Konsequenz: Die mit der Wurzelmetapher beschworene kulturelle Identität wird auf die ganze Gruppe ausgedehnt“. Jeder Ast gehört zu diesem großen und gewaltigen Baum; jeder Ast teilt dieselben Wurzeln wie sein Nachbar, sie alle gehören einem Kulturkreis an und besitzen dieselbe kulturelle Identität.

Tradition ist der geradezu zwangläufig damit in Verbindung zu bringende Begriff; was über eine unermesslich lange Zeit aus den starken Wurzeln gewachsen ist, vermittelt eine Vorstellung davon, was Tradition ist: das verbindende Gefühl einer verbindlichen kulturellen Praxis, eine Erdverbundenheit, wie es sie nur geben kann, wenn man mit den eigenen Wurzeln tief in der Heimaterde steckt. — Ein starkes Bild, das verführerisch klingt und nur mit Mühe zu dekonstruieren ist.

Was die Metaphern vom Fundament und vom Gipfel verbindet, sind ihre statischen Strukturen und ihre Funktionsweise im Spiel von Inklusion und Exklusion. Es kann nur diese eine Linie (den Baum mit seinen antiken Wurzeln) oder diese eine Abstammung (vom griechisch-römischen Ideal) geben. Es sind statische Metaphern, die keine äußeren Einflüsse und auch keine Vermischungen zulassen, sondern bestenfalls einen aufwändigen Integrationsprozess als Möglichkeit einer teilweisen Akzeptanz anbieten.

Den vertikalen Metaphern der kulturellen Wurzeln und der kulturellen Erbschaft, die beide bei Populisten und Identitären so beliebt sind, nimmt Bettini schnell den Wind aus den Segeln, indem er einerseits zeigt, wie stark aus historischer Sicht die Vermischung und gegenseitige kulturelle Beeinflussung von Okzident und Orient gerade im klassischen Griechenland war. Der Austausch mit der arabischen Welt und den nordafrikanischen, persischen und anderen Völkern war für die kulturelle Entwicklung des antiken Griechenlands maßgeblich. Das falsche Bild einer aus dem Nichts entstehenden kulturellen Höhe muss ersetzt werden durch das realistischere Bild eines permanenten Prozesses kulturellen Austauschs.

Maurizio Bettini schlägt deshalb eine bessere Metapher für die Beschreibung der kulturellen Verhältnisse vor: das horizontale Bild des Flusses. Im Gegensatz zu den eher statisch anmutenden vertikalen Metaphern der Wurzeln und des Gipfels ist die Fluss-Metapher von einer grundsätzlichen Beweglichkeit geprägt. Ein Fluss kann ruhig auch ein großer Strom sein, der sich aber immer wieder in kleinere Seitenarme verteilt, Zuflüsse erlaubt, die ihn noch stärker machen usw. – Entscheidend für die Fluss-Metapher ist das Bild einer fließenden kulturellen Entwicklung und permanenter Veränderung. Nichts bleibt an seinem Platz — außer das Flussbett selbst — und alles ist im Wandel. Es gibt einen Mainstream, ein breiter Strom gemeinsamer Werte und Vereinbarungen, aber es gibt auch Nebenflüsse und Zuflüsse, die eigene Impulse und neue Kräfte einfließen lassen und auf diese Weise für eine permanente Anpassung sorgen.

Eine solche horizontale Metapher „könnte uns mit der Vorstellung vertraut machen, dass Tradition kein vertikales Geflecht von Wurzeln […] isst, sondern ein vielgestaltiges Ensemble unterschiedlicher Lebensweisen.“ Tradition ist immer eine Konstruktion und muss erlernt werden; sie fällt nicht vom Himmel oder steckt tief in unserer Seele.

Das Phänomen des politischen Erfolgs der identitären Bewegungen in Europa ist für Bettini eng verbunden mit der Verflachung der kulturellen Unterschiede und dem Verschwinden regionaler Besonderheiten. Globalisierung und Digitalisierung haben einen Angleichungsprozess initiiert, der durch die weltweiten freien Waren- und Datenströme zu einer nie gekannten Homogenisierung der Erfahrungswelten geführt hat. „Wir leben in einer (realen) Welt der zunehmenden Homogenisierung und schaffen uns eine (imaginäre) Welt der Differenz.“ Der Wunsch nach Exklusivität, nach Abgrenzung und Absonderung, geht einher mit dem Wunsch, jemand Besonderes zu sein.

Werden wir in unserem vertrauten Umfeld plötzlich mit Menschen konfrontiert, die anders sind — also mit Menschen anderer Hautfarbe, Religion, anderen moralischen oder kulturellen Ansichten, müssen wir uns mit diesen Andersartigen auseinandersetzen. „Alterität […] drängt […] zum Nachdenken über die eigenen kulturellen Fundamente.“ Die Reaktion kann ein reflexives Hinterfragen der eigenen kulturellen Werte sein oder die strikte Ablehnung des Anderen in Form einer Ablehnung seiner fremden Werte. In jedem Fall wird jedoch die gesicherte Position eines hermetischen Kulturverständnisses verlassen; dieses als Nötigung oder gar Überforderung empfundene Infragestellen der eigenen Kultur erklärt vielleicht auch die Heftigkeit des Widerstands gegen alles Fremde unter den Anhänger der identitären Bewegungen.

Maurizio Bettinis Studie über die Wurzeln und die trügerischen Mythen der Identität lässt sich grob in zwei Hälften teilen: In der ersten Hälfte des Buches werden die theoretischen Grundlagen vermittelt, die Begriffs- und Ortsbestimmung der Wurzel-Metapher und ihre beeinflussende Funktion innerhalb des politischen Diskurses über Identität, Tradition und Kultur. Im zweiten Teil seiner Studie betrachtet der Autor anhand einiger Fallbeispiele die konkreten Wirkungen einer solchen Metaphorik im kulturellen und politischen Kontext.

Besonders anschaulich wird die Absurdität der identitären Rede von den kulturellen Wurzeln, wenn es um die kulinarischen Wurzeln der Kultur geht. Bettini ist Italiener und somit ist es naheliegend, dass er sich mit den italienischen Nationalgerichten beschäftigt, auf die viele Italiener zurecht stolz sind: Pizza und Polenta. Beginnen wir mit den Tomaten: Wer kann sich eine italienische Pizza ohne Tomatensoße vorstellen? Und doch stammt die Tomate bekanntlich aus Mittelamerika. Oder nehmen wir die Kartoffeln, die gerne in der norditalienischen Küche verwendet werden, oder die Paprikaschoten, welche für die Küche Kalabriens so bedeutend sind: Kartoffeln und Paprika kommen ursprünglich aus Amerika. Oder der gelbe Mais, der für die fantastische Polenta so grundlegend ist: Auf italienisch heißt er granturco (also wörtlich: Türkenkorn), doch in Wirklichkeit stammt auch er, wie die Tomaten, aus Mittelamerika. — Wo liegen also nach dieser kleinen Lebensmittelkunde die kulturellen Wurzeln der italienischen Küche?

Doch es kommt noch schlimmer: Was in Italien als Polenta zubereitet wird, ist keineswegs eine italienische Erfindung, sondern steht unter ähnlichen oder anderen Bezeichnungen auch auf dem Speiseplan anderer Landesküchen, so zum Beispiel in Brasilien oder Angola. „Wer jetzt noch behauptet, dieser goldfarbene Brei definiere die norditalienische Identität, muss bereit sein, diese Identität wenigstens mit den Angolanern zu teilen: afrikanische Sklaven unterschiedlicher ethnischer Herkunft, die man in Ketten auf die portugiesischen und brasilianischen Galeeren zerrte.“

Am Ende seiner Studie weist Bettini auf die Variabilität der kulturellen Wurzeln und i diesem Zusammenhang auf ihre Ähnlichkeit mit den altgriechischen Verbwurzeln hin. Auf so etwas kann nur ein Altphilologe kommen. Die kulturellen Wurzeln seien, so Bettini, einem ähnlichen Reglement unterworfen wie die Verbwurzeln des Altgriechischen.

Ein altgriechisches Verb kann stark, mittel oder schwach sein, es kann mit Präfixen oder Suffixen versehen werden, um auf diese Weise verschiedene Bedeutungsnuancen auszudrücken; Entsprechendes gilt auch für die kulturellen Wurzeln, deren jeweilige Bedeutung je nach Kontextualisierung recht unterschiedlich ausfallen kann. Dies meint Maurizio Bettini mit dem eingangs zitierten Satz über die Aktualität der kulturellen Wurzeln, die „je nach Bedarf und Opportunität ausgewählt und dekliniert“ werden können.

Wurzeln — Die trügerischen Mythen der Identität ist ein sehr aktuelles Buch über die Wirkung von politischer Sprache und die Instrumentalisierung des Kulturbegriffs für die Zwecke der identitären Bewegungen. Identität speist sich nicht aus einer tief verwurzelten und unveränderlich gedachten Kultur, sondern sie ist das vorläufige Ergebnis eines permanenten Prozesses der Traditionsbildung in einem ergebnisoffenen Diskurs. Maurizio Bettinis Buch hilft uns, wach zu bleiben und die Sprachspiele und Manipulationsversuche der Populisten zu entlarven. Dies kann und muss der erste Schritt sein zu einer aktiven Auseinandersetzung mit diesen Kreisen und ihrem Gedankengut; der Kampf um den Begriff der Kultur ist eröffnet, und an seinem Ende kann nur ein offener Kulturbegriff stehen, der einer Kultur des Fließens verpflichtet ist und weder Gipfel- noch Wurzel-Metaphern zur Ausgrenzung der Andersartigen bemüht.

 

 

Autor: Maurizio Bettini
Titel: „Wurzeln — Die trügerischen Mythen der Identität“
Gebundene Ausgabe: 160 Seiten
Verlag: Verlag Antje Kunstmann
ISBN-10: 3956142357
ISBN-13: 978-3956142352

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