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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Robert Walser: „Die kleine Berlinerin — Geschichten aus der Großstadt“

Am: | Februar 15, 2018

Welch eine Freude ist die Lektüre dieser Glanzstücke eines der wichtigsten Feuilletonisten der Kaiserzeit aus dem wilhelminischen Berlin! Robert Walser war natürlich in erster Linie Schriftsteller und betätigte sich nicht zuletzt zum Broterwerb auch nebenbei als Kritiker, Essayist und Feuilletonist für verschiedene Zeitungen, für das Berliner Tageblatt, die Frankfurter Zeitung, die Schaubühne und die Neue Rundschau. Gleichwohl lag das eigentliche Augenmerk der Literaturwissenschaft lange Zeit vor allem auf Robert Walsers Erzählungen und natürlich auf seinen Romanen, auf die Geschwister Tanner, Der Gehülfe oder Jakob von Gunten. All diese Romane schrieb Walser während jener sieben Jahre, die er von 1898 bis 1905 in Berlin lebte und arbeitete.

Bereits 2006 wurden vieler jener Feuilletonbeiträge Robert Walsers von Jochen Greven in der Anthologie Berlin gibt immer den Ton an zusammengestellt. Die hier vorliegende Ausgabe wurde jedoch um viele bedeutende Texte Walsers erweitert. Denn es sind gerade jene späteren Aufzeichnungen aus dem Bleistiftgebiet und Walsers Mikrogramme, kleinste Zettelchen, welche von ihm mit einer nahezu unleserlichen Mikroschrift, die kaum höher als 1 mm ist, in den Jahren vor 1933 verfasst wurden.

Was diese kryptischen und schwer zu entziffernden Aufzeichnungen betrifft, so ist es das große Verdienst der Germanisten Werner Morlang und Bernhard Echte, in mühseliger Kleinstarbeit (ganz im wörtlichen Sinne!) Walsers Mikrogramme entziffert und für die Nachwelt transkribiert zu haben. Doch zurück zum Anfang:

Robert Walser wurde 1878 in Biel, im Kanton Bern geboren. Sein literarisches Schaffen begann früh, schon 1898 erschienen erste Gedichte von ihm; von 1905 bis 1913 lebte er in Berlin und aus dieser Zeit stammen die meisten der hier versammelten Texte. Danach ging Walser in die Schweiz zurück. Er blieb seinem schriftstellerischen Schaffen bis etwa 1933 treu, wobei er immer weniger schrieb, seitdem er sich 1929 auf eigenen Wunsch in die Heilanstalt Waldau bei Bern einweisen ließ, nachdem er schon längere Zeit unter Halluzinationen und Angstzuständen litt. Walser zeugte nach dem Krieg schon lange keine Zeichen psychischer Krankheit mehr, doch er lehnte es in dieser Zeit wiederholt ab, die Anstalt zu verlassen. Er starb 1956 auf einem Waldspaziergang an einem Herzinfarkt.

Während seiner frühen Anstaltszeit begann Walser mit jenen Mikrogrammen und mit den Ausflügen in sein Bleistiftgebiet. Der Rückzug des Schriftstellers in das allmähliche verstummen seiner literarischen Stimme war auch ganz material zu beobachten: die immer kleiner werdenden Schriftzeichen, das Verschwinden der Wörter im Nichts.

Einige dieser Mikrogramme finden sich auch in der vorliegenden Sammlung. Sie geben einen kleinen Einblick in einen faszinierenden Kosmos literarischer Fiktion, die sich gleichwohl immer wieder entlang der Topographie Berlins bewegt, die Walser noch von seiner Berliner Zeit her bekannt war. Vor allem aber war es das Theater, dem Walsers Liebe schon früh galt und das für ihn zum eigentlichen Anziehungspunkt und Sehnsuchtsort seiner Zeit in der deutschen Hauptstadt wurde. So finden sich auch einige seiner besten Kritiken in diesem Band.

Die kleine Berlinerin ist ein buntes Mosaik aus kleinen Texten, die das Berlin der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vor dem geistigen Auge erstehen lassen als das Bild einer aufstrebenden Metropole, die von einer tiefen Fortschrittsgläubigkeit geprägt ist und deren Wachstum bereits ordentlich Fahrt aufgenommen hat — ein Wachstum, dessen Tempo und Dynamik sich in den 1920er Jahren noch weiter steigern wird. Doch Robert Walser beschreibt in seinen Texten noch jene Zeit vor der großen Zäsur des Ersten Weltkriegs, in der die Welt zwar auch noch heil, aber doch geordnet war. Seine Texte spiegeln die Liebe des Autors zu seinem Objekt wider; sie zeugen von der Faszination, die Berlin auch auf Robert Walser ausgeübt haben muss, sonst wäre er nicht sieben Jahre lang in dieser turbulenten und Nerven aufreibenden Stadt geblieben.

Berlin war als einzige wirkliche deutsche Großstadt zu jener Zeit ein Ort des „gesteigerten Nervenlebens“, wie ein Zeitgenosse, der Berliner Georg Simmel, in seinem berühmten Essay über Die Großstädte und das Geistesleben (1903) schrieb. Simmel wie Walser litten unter dieser Steigerung des Nervenlebens und unter dem Tempo der Großstadt, und beide waren gleichwohl von ihr fasziniert. Die kleine Berlinerin ist eine schöne Sammlung von Walsers Liebeserklärungen an dieses großstädtische Leben der Zeit um 1900.

 

 

Autor: Robert Walser
Titel: „Die kleine Berlinerin — Geschichten aus der Großstadt“
Taschenbuch: 217 Seiten
Verlag: Insel Verlag
ISBN-10: 345836322X
ISBN-13: 978-3458363224

 

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