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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Lisbeth Exner, Herbert Kapfer (Hg.): „Verborgene Chronik 1915–1918“

Am: | Januar 31, 2018

Es ist ein verstörendes Dokument der Zeitgeschichte, das uns den Wahnsinn des Krieges in all seinen Facetten präsentiert wie durch die Polyphonie eines vielstimmigen griechischen Chores. Die Tagebuchaufzeichnungen von 111 Zeitzeugen des Ersten Weltkriegs mit insgesamt 1.509 Einträgen lassen keinen Leser kalt. Diese unmittelbaren Zeugnisse des Erlebten, Gesehenen und Erlittenen konfrontieren den Leser aus erster Hand mit der kolossalen Wucht einer traumatisierenden Wirklichkeit und eines totalen und alle Zivilisation zerstörenden Krieges. Es war ein totaler Krieg, und er wütete an allen Fronten, im Felde und zur See, in der Luft und am Boden, im Feindesland und daheim.

Die NZZ sprach von einer „multiperspektivischen Nahaufnahme“ des Ersten Weltkriegs, und diese Beschreibung trifft es wohl am besten. Es gibt keinen Filter, keine Geschichtsschreibung, welche die großen Zusammenhänge objektiv reflektieren und für den Leser aufbereiten kann, sondern wir sind mittendrin im Schlachtfeld, im Stellungskrieg oder im Gefangenenlager, im Lazarett oder zuhause an der Heimatfront.

Die Verborgene Chronik ist ein Großprojekt der Germanistin Lisbeth Exner und des Journalisten Herbert Kapfer. Nach dem ersten Band, der sich ausschließlich mit dem Kriegsjahr 1914 befasste, ist nun mit diesem zweiten voluminösen Band (814 Seiten!) der Chronik von 1915 -1918 das Projekt abgeschlossen. Die in diesen Bänden vorgestellte Kompilation von Einträgen ist das Ergebnis einer jahrelangen Arbeit der beiden Herausgeber im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen.

Das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen wurde 1998 aus einer Privatinitiative heraus gegründet. In ihm werden deutschsprachige autobiographische Dokumente von Privatpersonen gesammelt. Der Gesamtbestand aus der zeit um 1800 bis heute umfasst rund 13.500 Tagebücher, Briefkonvolute und Lebenserinnerungen von rund 3.300 Autoren.

Auf diese Weise ist eine gewaltige Collage entstanden, die den Alltag der Kriegsjahre 195-1918 und die darauffolgenden Revolutionswirren abbildet. Die Lektüre lässt einen atemlos zurück. Vom ersten Eintrag an entwickelt sich ein Sog, der den Leser nicht mehr loslässt. Immer wieder muss man sich klarmachen, dass es sich bei diesen Texten nicht um Fiktion handelt, auch nicht um eine literarische Bewältigung des Phänomens Krieg, sondern eben um Originaldokumente, um Zeitzeugen-Berichte, um ganz persönliche Versuche, den alltäglichen Wahnsinn zu fassen, das unerträgliche durch das Aufschreiben erträglicher zu machen.

Viele Aufzeichnungen der Soldaten im Felde zeugen von einer luziden Sicht auf die Dinge: „Graben hinter Graben! Krieg bis zur Erschöpfung zu Hause und im Feld in einem der Krieg führenden Länder! Traurige, unglaubliche Zeit, ohnmächtig der gute Wille Tausender, eine Krankheit in den Völkern, schlimmer wie die Pest.“ (14. April 1916)

Da ist nichts mehr von der Euphorie und der Kriegsbegeisterung zu spüren, welche wie ein roter Faden noch viele Einträge des ersten Bandes der Verborgenen Chronik des Kriegsjahres 1914 durchzog. Ernüchterung, ja Verzweiflung angesichts der Unausweichlichkeit des allgegenwärtigen Todes, sprechen aus vielen Einträgen dieses zweiten Bandes:

„Wenn ich mal mit heilen Knochen aus diesem fürchterlichen Schrecknis zurückkehren sollte, dann hilf auch du wieder, den zum Tier gewordenen Menschen zum Menschen umzubilden.“ (4. Mai 1917)

Zeugen manche Eintragungen zu Beginn dieser zweiten Chronik noch von Zuversicht und Hoffnung, so werden mit jedem weiteren Kriegsjahr die Texte immer pessimistischer und kriegsmüder. Die Versorgungsengpässe daheim, die wachsende Not und der Hunger zu Hause spiegeln sich ebenso in den Eintragungen wider wie die Verzweiflung, Angst und Erschöpfung der Soldaten im Felde. Wir lesen von Front- und Etappensoldaten, Kindern und Arbeiterfrauen; von Offizieren, Krankenschwestern und Militärgeistlichen; von Kriegsgefangenen in Japan, Deutsch-Südwest und Sibirien.

Zusammen bilden diese Einträge ein ebenso faszinierendes wie verstörendes Mosaik, eine Polyphonie der Stimmen, eine Kakophonie des Grauens. Diese Verborgene Chronik 1915-1918 bringt uns die Schrecken und den Irrsinn des Krieges so nahe wie kaum ein anderes Buch. Es gibt gute Kriegsromane, die mit Hilfe der Fiktion in der Lage sind, uns ein Gefühl und eine Vorstellung für die Gegenwart eines Krieges zu geben; doch die Verborgene Chronik berührt uns noch unmittelbarer und mit ungebremster Wucht, denn ihre Texte sind nicht das Produkt einer gelungenen Fiktion, sondern die Zeugnisse realer Personen, die den Wahnsinn am eigenen Leibe erfahren haben: Nichts wirkt stärker als das persönliche Zeugnis.

 

 

Autor: Lisbeth Exner, Herbert Kapfer (Hg.)
Titel: „Verborgene Chronik 1915–1918“
Gebundene Ausgabe: 816 Seiten
Verlag: Galiani-Berlin
ISBN-10: 386971090X
ISBN-13: 978-3869710907

 

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