Jürgen Hohmuth: „Graustufen — Leben in der DDR in Fotografien und Texten“
Am: | Januar 22, 2018
So grau wie das Wetter in dieser Jahreszeit, so grau war es in der DDR, wenn der Wind mal wieder aus der Richtung des Braunkohlekraftwerks oder von den Chemie-Fabriken her wehte. In der kalten Jahreszeit sorgten die Ofenheizungen für einen milchigen Grauschleier, und das ganze Jahr über waren Trabis und Wartburgs auf allen Straßen der Republik unterwegs, um im Einsatz für den Fünf-Jahres-Plan die flächendeckende Eintrübung der Volksgenossen sicherzustellen. Das Kollektiv im Mief, sozusagen.
Was läge näher, als die Welt in Grau auf den guten alten Orwo-Filmen aus Wolfen (NP-15, NP20, NP-27) für die Nachwelt festzuhalten? Und was läge näher, als solche in Graustufen gehaltenen Fotos einer längst untergegangenen Episode der deutschen Geschichte an einem trüben Januar-Tag zu rezensieren?
Doch nicht nur schöne Schwarzweiß-Fotos kann man in diesem neuen Bildband aus der Edition Braus entdecken: Auch schlaue Texte über das Leben in der DDR sind hier zusammengestellt worden, mit entsprechend korrespondierenden Fotos. Das Ganze in einem schönen, gerade noch handlich zu nennenden Buchformat von 21 x 24 cm. Die Fotos selbst erreichen darin leider nicht einmal das Format 13 x 18, sondern wurden zugunsten eines hübschen Layouts auf ca. 11 x 17 cm beschränkt, was schade, aber nicht zu ändern ist.
Links die Fotos, rechts die Texte. Schnörkellos und aufs Wesentliche konzentriert. Zunächst eine schöne Einführung, geschrieben von der Ostberliner Schriftstellerin Regina Scheer, über den Fotografen Jürgen Hohmuth, seine Arbeit und sein Wirken in der DDR-Zeit und darüber hinaus. Das ist schön und gut und setzt den Rahmen. Dann aber: Die in diesem Bildband versammelten Texte stammen von Autoren, die es in sich — oder besser: die es am eigenen Leibe erlebt haben, dieses Leben in der DDR mit all seinen Graustufen!
Marion Brasch, Flake, Christoph Dieckmann, Ingo Schulze, Lutz Seiler, Kathrin Schmidt und und und. Meistens nehmen die Texte die links vorangestellten Bilder auf, verdichten oder konterkarieren sie, werfen mit Details zum DDR-Alltag um sich, die auch den Westler zum Nachempfinden anregen, den Ostler sicherlich in turbulente Erinnerungsfahrten stürzen werden: So roch es, so sahen die Straßen aus, so die Wohnküchen, so die menschenleeren Plätze, so die Hinterhöfe, Arbeitsplätze, Studentenbuden, Kneipen…
Ein dichtes Grau, eine schalldichte Nebelwand legt sich über den Leser und betäubt seine Sinne: War es wirklich so? So trist? So grau? So dreckig und hoffnungslos? — Ja, natürlich! Und selbstverständlich auch wieder nicht! Das Grau wird erst zum Grau, wenn Menschen fehlen, die noch Hoffnung haben und den Willen zum Widerstand und die dem Leben Leben einhauchen und es erst lebenswert machen. Doch grau sind die Bilder, und grau waren die Straßen, die Häuser, die Luft und nicht selten auch die Herzen.
Dieser Bildband vermag vielleicht mehr als jedes zehnbändige Forschungsprojekt über das Leben in der DDR zu zeigen, wie es sich angefühlt haben muss, damals in der DDR, in jener ersten sozialistischen Versuchsanordnung auf deutschem Boden. Grau sind die Bilder, und gar nicht so grau, sondern einfach anders sind die Menschen, die damals und dort gelebt haben. Das alles ist lange her, doch vielleicht braucht man auch gerade diese zeitliche Distanz, um besser zu verstehen, wie es gewesen war — und wie man selbst unter diesen Umständen gelebt hätte.
Autor: Jürgen Hohmuth
Titel: „Graustufen — Leben in der DDR in Fotografien und Texten“
Gebundene Ausgabe: 144 Seiten
Verlag: Edition Braus
ISBN-10: 386228168X
ISBN-13: 978-3862281688
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