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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Oskar Aichinger: „Ich bleib in der Stadt und verreise — Vom Gehen und Verweilen in Wien“

Am: | Januar 12, 2018

Der Musiker Oskar Aichinger ist kein gebürtiger Wiener, aber er lebt schon seit vielen Jahren in der österreichischen Hauptstadt. Jetzt ist sein Buch mit Spaziergängen durch das heutige Wien im Picus-Verlag erschienen. Es gäbe kaum einen besseren Verlag für seine Veröffentlichung als diesen Verlag, zu dessen Schwerpunkten und Spezialitäten die Reiseliteratur zählt. Man kennt vor allem die erfolgreiche Reihe der Lesereise, in welcher der vorliegende Titel jedoch nicht erschienen ist.

Aichinger liebt seine Stadt, und er liebt es, sich immer wieder von seiner Wohnung aus auf den Weg zu machen und zu schauen, wohin es ihn diesmal treibt. Wie der Autor selbst meint, ist er eher ein schneller Geher — auf keinen Fall ein Läufer, denn darin sieht er keinen Sinn. Wer läuft, ja, laufen muss, der ist auf der Flucht, oder er will ganz, ganz schnell von A nach B, hetzt einem bestimmten Ziel entgegen. Ja, das kann doch nicht der Sinn eines Stadtspaziergangs sein, der die Sinne öffnen und den Spaziergänger mit neuen Eindrücken überraschen soll!

Oskar Aichinger ist also ein Geher, meistens ist er recht flott unterwegs, doch gerade in den Innenstadt-Bezirken wird sein Schritt langsamer. Hier ist die Dichte der Signale größer, die der Spaziergänger empfängt und von denen er eine Auswahl an Zeichen trifft, die für ihn relevant sein könnten. Wenn an dieser Stelle von Signalen und Zeichen, also von Informationen, die Rede ist, so klingt das ein wenig technisch. Aber die Großstadt ist eben auch ein Ort, an dem wir permanent mit Informationen bombardiert werden, von denen wir die meisten gar nicht mehr bewusst wahrnehmen. Jene bewusste Wahrnehmung jedoch war seinerzeit die Stärke des Flaneurs, der einerseits die Anonymität der Großstadt für seinen autonomen Weg durch ihre Straßen nutzte und der andererseits auch im größten Großstadttrubel diese Signale zu empfangen und sie für sich zu decodieren vermochte.

Ist Oskar Aichinger also ein Flaneur? — Nein, zumindest nicht im dogmatischen Sinne; denn die Flanerie erfordert eine gewisse Disziplin, die Aichinger, so viel ist aus seinem Buch herauszulesen, nicht aufbringen möchte. Er möchte sich amüsieren, sich von der Stadt unterhalten lassen. Doch wer flaniert, geht einer ernsthaften Tätigkeit nach, und er sollte sich in direkter Linie mit der traditionellen Flanerie verbunden fühlen, wie sie einst von Franz Hessel, Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und anderen Flaneuren alter Schule praktiziert und perfektioniert wurde.

Die Geburt der Flanerie als eines absichtslosen Schlenderns und langsamen Gehens ist eng verbunden mit der Entstehung der europäischen Großstädte. London und Paris sind hier für das späte 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zu nennen, bevor mit dem Einsetzen der Gründerzeit auch Berlin zu jenen schnell wachsenden Metropolen gehörte, in denen die Flanerie praktiziert wurde; selbstverständlich war auch Wien als das Zentrum der Doppelmonarchie bis zum Ende des 1. Weltkriegs ein beliebter Aufenthaltsort für Flaneure und Lebenskünstler, ja, vielleicht ist gerade Wien ein solcher Sehnsuchtsort bis heute geblieben mit seinen altehrwürdigen Kaffeehäusern und der gemütlichen Lebensart zwischen der Josefstadt und Grinzing.

Der Flaneur lässt sich treiben. Er schlendert ohne Ziel, jedoch mit offenen Augen und geschärften Sinnen durch die Straßen; er liest die Textur der Stadt und lässt sich von ihr verführen, vom Wege abzubiegen, einem Zeichen zu folgen, sich einzulassen auf das Unerwartete. Hier ein Laut, dort ein Fenster, das sich öffnet; dort eine Biegung der Gasse, die neugierig macht; hinter der nächsten Ecke ein Lichtschein, vielleicht ein schönes Fräulein, deren schneller Gang dazu verlockt, ihr zunächst mit den Augen zu folgen und dann hinterher zu gehen um zu schauen, wohin sie geht. — Der Flaneur ist ein distanzierter Beobachter des Großstadtlebens, ständig bereit, die Rolle zu wechseln und zu einem beobachtenden Teilnehmer einer unerwarteten Aufführung zu werden.

All dies macht Oskar Aichinger auch, aber für einen echten Flaneur geht er mir ein wenig zu oft ins Restaurant, ins Beisl oder ins Kaffeehaus. Es ist nichts gegen die Besuche solcher Lokalitäten zu sagen; sie gehören auch zu den Orten, in denen sich der Flaneur aufhält, aber die Gewichtung scheint eine andere zu sein. Während der klassische Flaneur sich vor allem in den Straßen und auf den Plätzen der Stadt bewegt und dort seine Signale empfängt, sucht der Autor eher einen bestimmten Weg, den er schon zuvor für sich festgelegt zu haben scheint. Er trifft auf diesem Weg auf Menschen und lässt sich in Gespräche verwickeln, hier wechselt er schneller als der Flaneur von der Rolle des Beobachters in die des aktiven Teilnehmers.

Man könnte dieses Beharren auf einer feinen Abgrenzung des Spaziergängers vom Flaneur vielleicht als Spitzfindigkeit auslegen, doch sie ist nicht unwesentlich. Denn das Resultat beider Tätigkeiten ist verschieden. Während der gewöhnliche Stadtspaziergänger durch die Gegend schlendert und seine Heimatstadt wie ein Tourist durchwandert, gehört die Flanerie zu jenen intensiven Tätigkeiten permanenter Reflexion und gleichzeitiger Aufmerksamkeit höchsten Maßes, was den Empfang von Außenreizen betrifft.

Beide lassen sich treiben, der Spaziergänger wie der Flaneur, doch was dem einen als die beliebige Attraktion auf dem Wege erscheint, wird für den anderen zu einem Reiz, der sogleich reflexiv verarbeitet und damit auf eine höhere Bewusstseinsebene gehoben wird und das Potenzial entfaltet, jene „Geschichte“ weiterzuerzählen, die sich im Kopf des Flaneurs in jenem Moment zu entspinnen anschickt. Der Flaneur liest in der Stadt wie in einem Buch, dessen Texturen das Netz der Straßen und das dynamische Gewebe der sozialen Beziehungen ihrer Bewohner sind. Doch ob Oskar Aichinger nun ein Spaziergänger oder ein Flaneur ist, macht im Grunde keinen großen Unterschied, wenn wir uns das Ergebnis — sein Wien-Buch — anschauen.

Oskar Aichinger ist ein passionierter Spaziergänger und an seiner Seite lernen wir Wien kennen, wie sonst nur die Wiener es kennen. Lassen wir uns als Leser von ihm an die Hand nehmen und gehen wir mit ihm durch die stillen und belebten, die hochherrschaftlichen und die ärmeren Viertel der österreichischen Hauptstadt! Dieses Buch macht Spaß und es könnte den Leser zur Buchung einer möglichst baldigen Wien-Reise verführen, um dann selbst all diese Wege nachzugehen und Aichingers Spuren zu folgen. — Glücklich ist, wer schon in Wien lebt und sich gleich auf den Weg machen kann!

Aichinger ist Künstler, in erster Linie Musiker, und seine Sprache und seine Art zu schreiben, sind von einer ebensolchen Musikalität geprägt. Es macht Spaß, seinen Spaziergängen lesend zu folgen und seinen Reflexionen zu lauschen; denn fast ist es so, als wären wir mit ihm zusammen unterwegs.

Ebenso wichtig wie das Gehen ist dem Autor das Verweilen; denn wer immer nur das Ziel vor Augen hat, dem fehlt der Blick für die Schönheiten, die sich auf dem Wege zeigen. Eigentlich sollte dies klar sein, aber wir Eiligen haben immer nur das Endergebnis vor Augen und hasten von einem Ziel zum nächsten, ohne auf unsere innere Stimme zu hören, die uns ermahnt, immer auch den Weg selbst bewusst wahrzunehmen und ihn zu genießen.

Aber funktioniert das überhaupt: in der eigenen Stadt sich so zu bewegen, als wäre man in einer fremden? Aichinger macht sich hierzu seine Gedanken und kommt zu dem Schluss, dass der Blick das Entscheidende ist: „Der Blick in der eigenen Stadt, so die These, sei vorwiegend geradeaus gerichtet beziehungsweise leicht gesenkt, während man in fremden Städten zwar auch geradeaus, aber tendenziell mehr nach oben schaue.“ Da ist was dran!

Wenn wir uns also darin übten, den eigenen Blick nicht nur stur geradeaus auf das vor uns Liegende zu richten, sondern auch mal während des Gehens den Blick schweifen ließen, so könnten wir auch in unserer eigenen Stadt zu solchen Spaziergängern werden, die, wie Aichinger in seinem Wien, in der Stadt bleiben und in ihr verreisen! Wenn wir es auf die richtige Art und Weise lesen, so liefert uns Aichingers Wien-Buch die perfekte Anleitung für ein solches Gehen und Verweilen in der eigenen Stadt.

Verlassen Sie also jetzt gleich Ihre Wohnung und treten Sie auf die Straße! Machen Sie die Augen auf und schlagen Sie eine beliebige Richtung ein, von der Sie meinen, dass sie anziehender auf Sie wirkt als all die anderen möglichen Richtungen. Und dann, gleich hinter der nächsten Straßenecke, kann das Abenteuer Ihrer Reise in die eigene Heimatstadt beginnen!

 

 

Autor: Oskar Aichinger
Titel: „Ich bleib in der Stadt und verreise — Vom Gehen und Verweilen in Wien“
Gebundene Ausgabe: 196 Seiten
Verlag: Picus Verlag
ISBN-10: 3711720560
ISBN-13: 978-3711720566

 

 

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