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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Stéphanie Hennette, Thomas Piketty, Guillaume Sacriste, Antoine Vauchez: „Für ein anderes Europa — Vertrag zur Demokratisierung der Eurozone“

Am: | August 29, 2017

Sind Sie Politikwissenschaftler? Verfassungsrechtler? Oder wenigstens Jurist? Falls nicht, dann geht es Ihnen wahrscheinlich wie mir, und Sie werden sich fragen, was Sie mit diesem Buch anfangen sollen: „Für ein anderes Europa — Vertrag zur Demokratisierung der Eurozone“ klingt erst einmal toll, wir sind dafür! Doch ein erster Blick ins Buch verrät, dass uns hier — je nach Geschmack — ein schwerverdauliches Mahl vorgesetzt wird oder ein schwieriger Code, den es zu knacken gilt.

Lassen Sie uns gemeinsam versuchen zu verstehen, worum es hier eigentlich geht! Freundlicherweise haben die Autoren ihrem Vertragsentwurf für eine Demokratisierung der Eurozone sowohl eine Einleitung vorangestellt, als auch ein kleines Glossar angehängt. Derart ausgestattet, sind wir vielleicht eher in der Lage, den Inhalt des Büchleins zu verstehen.

Es geht, möglichst kurz gesagt, um das Problem, dass wir zwar eine EU mit einem eigenen Parlament mit Sitz in Brüssel haben, dass es jedoch auch noch eine zweite Entscheidungsebene gibt, die Eurogruppe, in der sich die Außen-, Finanz- und anderen Minister der Eurozone treffen, in Gremien diskutieren und am Ende Entscheidungen treffen, die weder auf EU-Ebene noch in den nationalen Parlamenten der Mitgliedsstaaten diskutiert oder beschlossen werden.

Seit der Finanzkrise 2008 sind diese wechselnden Gremien der Eurogruppe, die Troika oder auch die EZB für zahlreiche Entscheidungen im EU-Raum sowie für grundlegende Weichenstellungen der EU-Länder verantwortlich. Die Austeritätspolitik der EU gegenüber Griechenland, die desaströsen Auflagen der Troika und die zweifelhaften Manöver der EZB sind auf dieser Entscheidungsebene der Eurozone entwickelt und beschlossen worden. Eine Beteiligung oder Befragung der Bürger aller beteiligten EU-Staaten fand zu keiner Zeit statt.

Genau hier setzen die Autoren dieses Buches ihre Kritik an. Die fehlende Bürgerbeteiligung und die zunehmend undemokratischen Absprachen der Ministerrunden führen einerseits zu Entscheidungen, die für die Mehrheit der Bürger schwer nachvollziehbar sind, und die andererseits aufgrund dieser Ablösung von demokratischen Prozessen der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung zu einer immer stärkeren Entfremdung der Politik von den Belangen des Volkes und zu einer allgemeinen Politikverdrossenheit führen.

Thomas Piketty und andere französische Rechts- und Politikwissenschaftler haben nun einen Vertragsentwurf erarbeitet, der zu einer Reform der bestehenden Missverhältnisse und zu einer Demokratisierung der Entscheidungsprozesse der Eurozone beitragen soll. Die Zusammenhänge und Zielsetzungen eines solchen Vertrages werden in diesem Buch erläutert. Die einzelnen Paragraphen des Vertragsentwurfes werden außerdem ausführlich kommentiert, so dass auch der juristische und politische Laie verstehen mag, worum es geht. Dies ist zumindest die Hoffnung der Autoren.

Leider steht zu befürchten, dass es den meisten Leser schwerfallen wird, die komplexen und (vielleicht sogar absichtlich?) schwer nachzuvollziehenden Prozesse der Entscheidungsfindung durch die Eurogruppe zu verstehen. – Überhaupt Eurogruppe: Dieser Begriff ist nun schon häufig in dieser Besprechung gefallen, und auch in den täglichen Nachrichten plätschert er wie selbstverständlich dahin und wird nicht hinterfragt, denn eigentlich scheint ja klar zu sein, was damit gemeint ist.

Die Eurogruppe ist ein informelles Gremium, in dem die Minister der Eurozone „über Fragen betreffend den Euro beraten, die in ihre gemeinsame Verantwortung fallen“, darunter solche der Haushalts-, Geld- und Strukturpolitik. „Dort bereitet man Entscheidungen des Rats der Wirtschafts- und Finanzminister der Gesamtunion vor und bespricht die Modalitäten die Finanzhilfen des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) an Länder der Eurozone, die in großen finanziellen Schwierigkeiten stecken.“

Haben Sie das verstanden? Es geht also um die Rettung des Euro und um die Wahrung der finanziellen Interessen der Gläubiger und Banken in Bezug auf Länder wie Griechenland, Portugal oder Spanien. – Die Entscheidungen der Eurogruppe werden hinter verschlossenen Türen getroffen, die Bürger der EU werden nicht gefragt und auch nicht beteiligt, dürfen aber die Folgen jener Politik mittragen.

Um die Abschaffung jener fehlenden Bürgerbeteiligung und um die Demokratisierung jener politischen Strukturen geht den Verfassern jenes Vertragsentwurfs. Nur durch eine Öffnung der Gremien und die Einbeziehung einer öffentlichen Diskussion der möglichen Strategien zur Stabilisierung des Euro kann jene Politikverdrossenheit, die in allen Ländern der EU weit verbreitet ist, aufgefangen werden.

Die Verpflichtung zu einer solchen (Demokratisierung der Eurozone könnte zu einem ersten und entscheidenden Schritt einer grundlegenden Reformierung der EU werden, die dringend nötig ist, um den weiteren Zerfall ihrer Strukturen und eine Abkehr einzelner Mitgliedsstaaten zu verhindern. Nur durch eine verstärkte Demokratisierung der Entscheidungsprozesse wird das historische Projekt einer Europäischen Union eine Zukunft haben.

 

 

Autor: Stéphanie Hennette, Thomas Piketty, Guillaume Sacriste, Antoine Vauchez
Titel: „Für ein anderes Europa – Vertrag zur Demokratisierung der Eurozone“
Taschenbuch: 89 Seiten
Verlag: C.H.Beck
ISBN-10: 340671496X
ISBN-13: 978-3406714962

 

 

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