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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Colin Ellard: „Psychogeografie — Wie die Umgebung unser Verhalten und unsere Entscheidungen beeinflusst“

Am: | Juli 31, 2017

Psychogeografie, dieser Begriff macht zunächst neugierig. Dabei weiß eigentlich jeder instinktiv, worum es geht: Unsere Umgebung wirkt auf uns, ganz banal formuliert. Besonders deutlich wird dies deutlich, wenn wir uns mit Architektur beschäftigen, und ganz besonders deutlich, wenn wir an die Wirkung eines Kirchenraumes denken.

Die Sakralität des Ortes geht nicht zuletzt von dem umbauten Raum aus und ist geradezu mit Händen zu greifen. Dasselbe gilt grundsätzlich auch für alle anderen Räume, in denen wir uns bewegen und aufhalten, wenn auch mit einer graduell schwächeren Wirkung. Die wahrnehmungs- und neuropsychologische Disziplin, die sich mit der Wirkung von Räumen beschäftigt, wird neuerdings unter dem Begriff Psychogeographie zusammengefasst.

Nicht nur totalitäre Regime und Diktaturen haben zu allen Zeiten auf den einschüchternden Effekt von kolossaler Architektur gesetzt; auch heute noch sind öffentliche Gebäude wie Rathäuser, Gerichte, Einkaufszentren und Filmpaläste nicht selten von einer Respekt einflößenden Größe und durch eine hierarchisch strukturierte Anordnung der Räumlichkeiten gekennzeichnet. Aber auch die Stadtplanung weiß, die jüngsten psychogeografischen Erkenntnisse für ihre Arbeit zu nutzen. Denn die Strukturierung des öffentlichen Raumes hat einen großen Einfluss auf unser Verhalten; die Steuerung und Lenkung der individuellen und kollektiven Bewegungsabläufe in den großen Ballungszentren gehört zu einer der vordringlichsten Aufgaben der Stadtplanung.

Colin Ellard ist einer der Protagonisten auf diesem Forschungsfeld. Als Neurowissenschaftler und Experimentalpsychologe forscht und arbeitet er an der renommierten kanadischen University of Waterloo und leitet dort das Urban Realities Laboratory, eine interdisziplinäre Einrichtung von Neurowissenschaftlern und Stadtplanern.

Es ist gerade dieser interdisziplinäre Forschungsansatz, der sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch zieht und es zu einer so spannenden Lektüre macht. Ganz in der anglo-amerikanischen Tradition der gut geschriebenen und leicht verständlichen wissenschaftlichen Forschungsliteratur geschrieben, begeistert dieses Buch vor allem durch seine gute Lesbarkeit und die Fähigkeit des Autors, auch komplexe Zusammenhänge für den Laien nachvollziehbar zu machen.

Die Gliederung von Ellards Studie ist schlüssig: Wie es für die Thematik geradezu naheliegend zu sein scheint, unterteilt er seine Abhandlung in eine Beschäftigung mit Orten der Natur, der Zuneigung, der Lust, der Langeweile, der Angst und der Ehrfurcht, also jenen menschlichen Grunderfahrungen, die auch und gerade in und durch die Inszenierung von Räumen erzeugt werden.

In den letzten beiden Kapiteln wählt der Autor eine distanziertere Perspektive und beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Raum und Technologie sowie der Wechselwirkung von Welt und Maschine. Spätestens in diesem Kontext hätte man sich einen etwas stärkeren interdisziplinären Blick gewünscht, der auch raumtheoretische und raumsoziologische Perspektiven aufgreift; doch der Fokus von Ellards Buch bleibt auf den neurowissenschaftlichen Aspekten der Psychogeografie.

Gleichwohl liest sich das Buch wie eine spannende Reise durch die Welt unserer Wahrnehmung und den Einfluss, den die Umgebung auf sie, auf unsere Entscheidungen und unser Verhalten hat. Wer sich also für Neurowissenschaft interessiert und wissen möchte, wie und warum Orte wirken, ist mit diesem schön geschriebenen und alle aktuellen Forschungsergebnisse versammelnden Buch bestens beraten!

 

 

Autor: Colin Ellard
Titel: „Psychogeografie — Wie die Umgebung unser verhalten und unsere Entscheidungen beeinflusst“
Gebundene Ausgabe: 352 Seiten
Verlag: btb Verlag
ISBN-10: 3442756286
ISBN-13: 978-3442756285

 

 

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