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Mark Terkessidis: „Nach der Flucht — Neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft“

Am: | Juli 24, 2017

Der Psychologe, Sozialwissenschaftler und Migrationsforscher Mark Terkessidis hat ein hochaktuelles und bemerkenswertes Büchlein in der Reihe Was bedeutet das alles? bei Reclam veröffentlicht. In ihm wirft er einen erfrischend unverkrampften und innovativen Blick auf die Bevölkerungsstruktur unseres Landes und zeigt, dass Migration keineswegs ein neues und vorübergehendes Phänomen unserer Gesellschaft ist, sondern in Gegenteil ein integraler Bestandteil unserer gesellschaftlichen DNA.

Terkessidis hat selbst einen „Migrationshintergrund“, gehört also zu jener sozialen Gruppe, bei der mindestens ein Elternteil selbst noch nach Deutschland eingewandert ist. Wer könnte also geeigneter sein, einen neuen und frischen Blick auf die „Problematik“ zu werfen; er tut dies mit viel Leidenschaft, und schnell begreift man, dass der offizielle Blick auf die Dinge nicht unbedingt der richtige sein muss, um mit dem Thema Migration umzugehen. Nicht immer ist das Problem das Problem, manchmal liegt es einfach auch nur an der falschen Perspektive.

Es wird Zeit, dass Deutschland erwachsen wird. Auch wenn erst 1998 ein Einwanderungsgesetz verabschiedet wurde, sind wir (und waren wir immer schon) ein Einwanderungsland. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kamen 12 Millionen Ostflüchtlinge ins Land; nach dem Mauerbau begann die Masseneinwanderung aus denjenigen Staaten, mit denen die Bundesrepublik 1955 ein Anwerbeabkommen geschlossen hatte: Italiener, Spanier, Marokkaner, Griechen und Türken. Nach 1990 beschleunigten sich diese Migrationsbewegungen, so dass laut Statistischem Bundesamt bis 2014 insgesamt 23 Millionen kamen und 17 Millionen gingen.

Natürlich wird schon seit langem eine Menge für die „Integration“ der Migranten getan. Es gibt eine regelrechte „Willkommenskultur“ mit Migrationskursen, Deutschkursen, Integrationskursen und vielen weiteren Angeboten, die eine möglichst schnelle und reibungslose Integration der Neuankömmlinge ermöglichen soll. Doch ist diese Sichtweise überhaupt noch angemessen?

Wer heute in Deutschland in einem städtischen Umfeld lebt, weiß aus eigener Erfahrung, dass es die alten homogenen Strukturen nicht mehr gibt. Vielleicht hat es sie auch niemals wirklich gegeben, auch wenn in den frühen Jahren der Bundesrepublik eine vergleichsweise statischere und gleichförmigere Bevölkerungsstruktur existiert haben mag. Die Vorstellung einer Gesellschaft, in der „man“ unter seinesgleichen bleiben kann, ist das Traumbild einer überwiegend akademisch gebildeten bürgerlichen Mittelschicht, aber es ist auch nach wie vor die Perspektive der Politik, und das ist falsch, findet Terkessidis zurecht.

Es spiegelt die falsche Vorstellung einer in sich homogenen Gesellschaft wider, einer Gesellschaft des „Wir“, zu der die „Anderen“ durch „Zu-Wanderung“ hinzukommen. Diese Perspektive erzeugt von vornherein ein dichotomisches Verhältnis — hier stehen „wir“, dort die „Anderen“ — und eröffnet damit auch ein weites Feld für Abgrenzungsstrategien und falsch verstandene Hilfeleistungen zur bestmöglichen „Integration“ in den gesellschaftlichen Verbund.

Gerade durch die zahlreichen Integrationsangebote machen wir deutlich, dass die Neuankömmlinge, die Fremden, nur dann ein Bleiberecht in unserer Gesellschaft genießen dürfen, wenn sie sich uneingeschränkt unseren Regeln unterwerfen und sich anpassen. Sie sollen nicht weiter auffallen und werden nur dann akzeptiert, wenn ihre Anpassungsleistungen unseren Erwartungen entsprechen.

Doch so funktioniert Gesellschaft nicht. Vergesellschaftung ist ein hochdynamischer Prozess, und die Gesellschaft formiert sich vielmehr im permanenten Austausch ihrer Mitglieder auf der Grundlage eines gemeinsam erarbeiteten Wertkanons. Jedoch gerade durch die umfangreiche Integrationskultur schaffen wir entgegen aller guten Absichten eine Art Parallelgesellschaft; in ihr leben „die Anderen“, die fremd sind und die man erst durch aufwändige Kurse und mit Hilfe gesonderter sozialer Einrichtungen „auf Kurs“ bringen muss.

Aus dieser Perspektive werden aus Migranten selbst im Erfolgsfall einer gelungenen Integration immer nur „Bürger zweiter Klasse“ werden, aufgrund ihrer fremden Herkunft werden diese Menschen automatisch als „anders“ und „fremd“ stigmatisiert. Doch die gesellschaftliche Realität sieht längst anders aus. Der tägliche Umgang mit Menschen „mit Migrationshintergrund“ (ebenfalls eine unnötige Stigmatisierung) gehört längst zu unserem Alltag, in der Öffentlichkeit sind wir von Menschen umgeben, die nicht in Deutschland geboren sind oder ihre Wurzeln in anderen Ländern und Erdteilen haben.

Diese Tatsache ist auch nicht weiter verwunderlich für eine globalisierte Welt und in einem Land, das in der Mitte Europas schon immer das Ziel von Einwanderern war. Doch die Politik geht immer noch von falschen Voraussetzungen aus und scheint der Tatsache, ein Einwanderungsland zu sein, weiterhin nicht ins Auge schauen zu wollen.

Wie wäre es, wenn wir die Perspektive wechselten, und „Migration“ nicht als Stigma, sondern als eines unter vielen Persönlichkeitsmerkmalen begriffen? Vielleicht bringt uns das Stichwort „Inklusion“ auf die richtige Spur; denn die gewünschte Inklusion von Menschen mit Behinderung hat in den vergangenen Jahren zu einer Reihe von gesetzes- und Verhaltensänderungen geführt, die die Gleichberechtigung von Behinderten deutlich vorangebracht haben. Behinderte Menschen werden nicht mehr als Belastung gesehen; im öffentlichen Raum wird „Barrierefreiheit“ immer mehr zur Selbstverständlichkeit; Bewerbungsunterlagen müssen heutzutage neutralisiert werden usw. usf.

Doch Migranten werden nach wie vor als Problem gesehen, und vor ihrer Eingliederung in die Gesellschaft steht die Hürde der Integrationskurse (und auf Seiten der Migranten natürlich auch deren Integrationswilligkeit). Wenn man jedoch die Perspektive wechselt und nicht mehr von der strukturellen „Einheit“ unserer Gesellschaft ausgeht, sondern deren „Vielheit“ akzeptiert, eröffnet sich ein großer Spielraum für gesellschaftliche und kulturelle Prozesse, der aus der jetzigen Perspektive nicht besteht.

Terkessidis spricht bewusst von „Vielheit“ anstelle von „Vielfalt“, weil der Begriff der Vielfalt einerseits schon relativ verbraucht ist, andererseits eine Kohärenz suggeriert, die sich entfalten lässt, jedoch keine wirklich außenstehenden Impulse akzeptiert. Doch genau solche Impulse „von außen“ bilden wieder die alte (und zu überwindende) Vorstellung von einer in sich geschlossenen Gesellschaft ab. Deswegen ist der Begriff der „Vielheit“ hier geeigneter, um die Idee einer offenen Gesellschaft zu veranschaulichen.

Anders als Zygmunt Bauman, der in seinem Essay Die Angst vor den Anderen angesichts des Phänomens der Migration auf die individuellen Ängste des Einzelnen zu sprechen kommt und das Gespräch als das zentrale Instrument zur Überwindung von Berührungsängsten empfiehlt, versucht Terkessidis durch einen generellen Perspektivwechsel sowie durch die Abfassung eines „Vielheitsplanes“ einen neuen Blick auf unsere gesellschaftliche Situation zu finden.

Der Vielheitsplan, wie ihn Terkessidis beschreibt, soll vor allem als ein gesellschaftlicher Masterplan den Blick weg vom Problem und hin zu einer gesamtgesellschaftlichen Lösung liefern. Indem man die Vielheit als eine positive Kraft für die kontinuierlichen Prozesse der Vergesellschaftung ansieht, verschiebt sich automatisch auch der Blickwinkel. Das vermeintlich Andere, das Neue, wird als Bereicherung gesehen und nicht als Bedrohung. Nur auf diese Weise kann eine Gesellschaft sich immer wieder erneuern und entwickeln. Alles Andere wäre Stillstand und letztlich ihr Untergang.

Terkessidis sieht hier vor allem die Politik in der Pflicht. Gerade sie müsse aktiv werden und Kompetenz beweisen, um allen populistischen Bewegungen das Wasser abzugraben; denn diese profitieren ja vor allem von der Hilflosigkeit und dem Versagen der aktuellen Politik. Für den Autor geht es also explizit um eine Reform der staatlichen Organisationen und gesellschaftlichen Institutionen „von oben“, die natürlich durch einen entsprechenden Perspektivwechsel „von unten“ begleitet werden muss. Für ihn ist klar, dass sich „nur politisch Einfluss nehmen lässt auf die Funktionsweise der öffentlichen Institutionen. Hier sollte die Neujustierung von Verwaltung, Planungswesen, Bildung oder Gesundheitsversorgung im Hinblick auf eine veränderte Gesellschaft vorangetrieben werden.“

Wie gesagt, wir haben dies alles schon mindestens ein Mal gemacht, Stichwort Inklusion. Auch in Fragen der Gender-Gleichberechtigung war die Politik in der Lage ihre Institutionen zu modernisieren. Ebenso könnte auch ein Vielheitsplan politisch umgesetzt werden, „eine strategische Orientierung, ein Plan, der über die nächsten Jahrzehnte verfolgt werden soll und der die Vielheit der gesamten Bevölkerung adressiert“. Es wäre einen Versuch wert!

Die unter Anderem von dem Soziologen Harald Welzer ausgehende Initiative Offene Gesellschaft, die sich vehement und erfolgreich für eine demokratische und offene Gesellschaft einsetzt, hat vor einiger Zeit die Frage gestellt „Welches Land wollen wir sein?“. In Bezug auf die Aufnahme von Geflüchteten in unser Land ist die Haltung der großen Mehrheit klar: Man möchte diesen Menschen helfen und sie, falls gewünscht, in unsere Gesellschaft integrieren.

Terkessidis geht nun einen wichtigen und entscheidenden Schritt weiter, indem er fordert, statt einer Integration der Anderen eine offene Gesellschaft in Vielheit zu denken und zu leben. Damit liefert er einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Diskussion und bereichert den Diskurs um eine erfrischende neue Sicht auf die Dinge, die zu einer gesellschaftlichen und politischen Neuorientierung einlädt.

 

 

Autor: Mark Terkessidis
Titel: „Nach der Flucht — Neue Ideen für die Einwanderungsgesellschaft“
Gebundene Ausgabe: 79 Seiten
Verlag: Reclam
ISBN-10: 3150194490
ISBN-13: 978-3150194492

 

 

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