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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Zygmunt Bauman: „Das Vertraute unvertraut machen — Ein Gespräch mit Peter Haffner“

Am: | Juli 12, 2017

Der polnische Soziologe Zygmunt Bauman, geboren 1925 in Posen, starb zu Beginn dieses Jahres (2017) im Alter von 91 Jahren in seinem Haus in Leeds. Mit ihm hat die Welt des Geistes einen großen Soziologen und einen der wichtigsten Denker verloren. Über weite Strecken hat Bauman die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des 20. sowie des frühen 21. Jahrhunderts miterlebt und in seinen Werken immer wieder auf die Missstände und Fehlentwicklungen hingewiesen, die er in den Gesellschaften der „flüssigen Moderne“ beobachtete.

Im vergangenen Jahr, nur wenige Monate vor seinem Tod, hat Bauman den bekannten deutschen Journalisten und Essayisten Peter Haffner in sein Haus eingeladen und mit ihm lange Gespräche geführt. Diese Gespräche sind nun bei Hoffmann und Campe erschienen. Ohne Übertreibung darf man von einem Vermächtnis sprechen, das Bauman in diesen langen und intensiven Gesprächen der Nachwelt hinterlässt.

Immer wieder spricht Bauman in diesem Buch auch von seinem nahen Tod, von der Einsicht, dass ihm nur noch wenig Zeit bliebe, und von der Ungewissheit, die ihn umtreibe, ob sein Leben sinnvoll gewesen sei. Wie Peter Haffner im Gespräch, so wird auch der Leser dieses Buches schnell zur Überzeugung gelangen, dass Baumans Leben für die Soziologie äußerst sinnvoll gewesen war und dass der Sinn vor allem in Zygmunt Baumans unermüdlichem Handeln, seiner oft harschen, jedoch stets begründeten Zivilisationskritik sowie in seiner nie erlöschenden Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu finden ist.

„Soziologie heißt für mich, das Vertraute unvertraut zu machen und das Unvertraute vertraut.“ Das ist die Aufgabe der Soziologie. Bauman war ein scharfer Beobachter aus der Distanz, geschult und ausgerüstet mit jenem soziologischen Blick, den bereits Georg Simmel auf die Welt lenkte: Ohne die Wahrnehmung von der Wirklichkeit zu unterscheiden, sondern eben gerade beides für gleich-wertig zu erachten, wurde der einst überzeugte Kommunist Bauman schon in frühen Jahren zu einem kritischen Beobachter der bestehenden Verhältnisse. Bis zum Ende sah er sich selbst als einen Schüler von Marx und blieb seinem materialistischen Weltbild treu.

Auch seine soziologische Hermeneutik, wie er es nennt, betrieb Bauman bis zum Schluss. So setzte er sich kritisch mit den Migrationsströmen der vergangenen Jahre auseinander, und auch in seinem letzten Werk Retrotopia (zu Beginn dieses Jahres bei John Wiley & Sons erschienen und für Ende Oktober in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp angekündigt) geht es Bauman um die mentale Verfassung der Menschen in der Postmoderne (oder der „flüssigen“ bzw. „flüchtigen Moderne“, wie er es nennt).

„Soziologische Hermeneutik heißt nachzudenken über die Bedingungen, die Umstände und die Verfassung der Gesellschaft.“ sagt Bauman im Gespräch mit Peter Haffner. „Man muss von den Ideen, die den menschlichen Geist dominieren, zum Körper der Gesellschaft vorstoßen, versuchen, die Verbindungen zwischen beidem zu finden.“ Auf diese Weise ist ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge möglich, als mit den üblichen Instrumenten der Soziologie.

Schnell begreift man, dass Zygmunt Bauman für viele Soziologen ein problematischer Kollege war. Zu unorthodox schienen seine Annäherungen an die gesellschaftlichen Phänomene, zu blumig, lyrisch und interdisziplinär seine Texte. Was für den Wissenschaftsbetrieb mitunter Probleme aufwarf, wird für den Leser jedoch zum Gewinn: Baumans Texte sind leicht lesbar, bieten oftmals eine faszinierende und spannende Lektüre, sie sind abwechslungsreich gestaltet und kommen zu Schlussfolgerungen, die plausibel und nicht selten verblüffend einfach sind. Doch sie sind das Ergebnis eines lebenslangen intellektuellen Trainings.

Heute leben wir längst in einer Konsumentengesellschaft; der Konsumismus hat im Zuge der Globalisierung und der ungebremsten Dynamisierung des Kapitalismus zu einem Grad der Individualisierung geführt, der historisch beispiellos ist. Die gesellschaftlichen Kollektive sind verschwunden, der einstige soziale Klebstoff der Solidarität wurde ersetzt durch das Credo der Rivalität und des Wettbewerbs auf allen gesellschaftlichen Ebenen.

Was einst als Projekt der Moderne galt, die Schaffung stabiler und gerechterer Verhältnisse mit Hilfe des technologischen Fortschritts, hat sich in den Zeiten der flüssigen Moderne unter dem Primat der Dynamisierung aller Strukturen zu einer Welt gewandelt, in der die Gesellschaft nur noch aus einer Ansammlung unzähliger Individuen besteht, die sich grenzenlos voneinander unterscheiden, jedoch keine gemeinsamen Gruppenmerkmale mehr aufweisen.

Wir leben in einer klassenlosen Konsumentengesellschaft, und lediglich die Grobeinteilung in Reich und Arm lässt noch eine klassenähnliche Dichotomie zu. Gleichwohl sind die Übergänge fließend und der soziale Absturz in den Bereich der Armut jederzeit möglich. Es ist jene Welt, in denen die 99 % unter den politischen und ökonomischen Entscheidungen des 1 % der Reichen zu leben und zu leiden haben.

Die Politik hat längst ihre Macht an die Märkte und die global agierenden Konzerne verloren und versucht nur noch auf die tagesaktuellen Entwicklungen zu reagieren und durch populäre Entscheidungen in der Wählergunst zu reüssieren; ihre frühere Macht für die Planung und Umsetzung von großen sozialen Visionen besitzt sie nicht mehr. Bauman: „Jetzt ist es Sache des Einzelnen, selber eine Lösung für Probleme zu suchen, die er nicht verursacht hat.“ Dies gilt vor allem für die prekäre Situation im Bereich der Ökonomie.

Das klassische Modell der Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit war die Ford-Fabrik. Kapitalist und Arbeiterschaft standen in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Jeder brauchte den Anderen, und es ergab sich, bei aller sozialen Ungerechtigkeit, eine stabile „Win-Win-Situation“. Doch dann wurde im Zuge des Neoliberalismus und der Globalisierung jener ungeschriebene Vertrag zwischen Kapitalist und Arbeiter einseitig aufgekündigt:

Der Unternehmer konnte fortan problemlos seine Fabrik in einen anderen Teil der Welt verlagern, wo die Arbeitskräfte billiger und die Sicherheitsstandards lockerer sind. Der normale Arbeiter ist nicht so mobil wie das Kapital. Er kann sich nur mit Mühe auf den Weg zu einem neuen Arbeitsgeber, in ein neues Land machen; denken wir an die Migrationsströme und betrachten hierbei jenen Teil der Wirtschaftsflüchtlinge, so wird klar, unter welchen Strapazen und Gefahren ein solcher Weg unternommen werden muss und wie hoch der Preis ist den ein Arbeitssuchender zu zahlen hat.

Das war nicht immer so. Nach drei guten Jahrzehnten hatte der Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg die Erwartungen, die an ihn gestellt wurden, nicht erfüllen können. Die soziale Ungleichheit war nach wie vor ein Thema — und sie ist es heute mehr denn je zuvor. In den 1970er Jahren traten dann neue Akteure auf die Bühne — Milton Friedman, Margaret Thatcher, Ronald Reagan —, und fortan wurde der Markt, der freie Markt, zum Heilsbringer für die ungelösten Probleme der Zeit.

In Zeiten des grenzenlosen Konsumismus ist die Kultur „geprägt vom Druck, jemand anderer zu sein. Es geht um den Erwerb von Eigenschaften, für die auf dem Markt eine Nachfrage besteht.“ Wir sind, mit anderen Worten, selbst zum Produkt geworden, und wir setzen alles daran, uns möglichst optimal zu vermarkten. Bauman weiter: „Nur als Konsumgut ist man ein vollwertiges Mitglied der Konsumgesellschaft. Das Paradoxe ist, dass der Zwang […] nicht als Druck von außen, sondern als Manifestation persönlicher Freiheit erlebt wird.“

Besser kann man das paradoxe Verhalten der Leute nicht beschreiben. Es geht letztes auch um jenes Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit, das bereits Sigmund Freud in seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930) thematisiert hat. Je mehr Freiheit das Individuum einfordert, desto weniger Sicherheiten kann es geben, und umgekehrt. In Zeiten der Angst ist das Bedürfnis nach Sicherheit besonders groß, auch wenn die Ängste irreal sind. „Die spezifischen Ängste der Moderne traten auf, als die Deregulierung und Individualisierung traditionelle Bande der Gemeinschaft zerriss oder zumindest stark lockerte.“ stellt Bauman fest.

Ein anderes Motiv für Sicherheit ist die Bequemlichkeit. Ich gehe lieber auf Nummer sicher, gehe kein Risiko ein. Ich suche mir meinen Partner lieber über ein Online-Dating-Portal, anstatt mich in der realen Welt umzusehen; denn so kann ich die Eigenschaften und Features schon vorher auswählen und erlebe keine unliebsamen Überraschungen. — Ich werde aber auch nicht positiv überrascht, weil ich alles bereits im Voraus geplant habe und weiß, was mich erwartet.

Wir leben in einer ziemlich armseligen Welt des permanenten Konsums und der potentiellen Austauschbarkeit von Waren, Gefühlen, Menschen. Viele Leute halten sich lieber im Internet auf als in der realen Welt, denn dort finden sie Gleichgesinnte. So verbringen immer mehr Menschen ihre Lebenszeit in Echokammern, wie Zygmunt Bauman es nennt: Sie hören nur noch die Echos ihrer eigenen Stimme und erfahren keinen Widerspruch mehr, und falls doch, wird der einfach weggeklickt. Auf diese Weise findet jedoch kein Dialog, kein intellektueller Austausch mehr statt, sondern die Leute sitzen nur noch in ihren digitalen Spiegelsälen und betrachten sich selbst. Das sieht auch Zygmunt Bauman so, und es macht ihn traurig, jedoch nicht hoffnungslos.

Wenn man all die Kriege, Konflikte und Krisen der Welt und die unzähligen Probleme sieht, mit denen wir alle und jeder Einzelne von uns konfrontiert ist, so könnte man verzweifeln oder zumindest eine pessimistische oder defätistische Haltung einnehmen: Es wird schlimm enden, und wir können nichts dagegen tun, sondern nur zusehen… — Doch Bauman ist alles Andere als ein Pessimist: „Pessimismus, das ist Passivität, ein Nichtstun, weil sich nichts ändern lässt. Aber ich bin nicht passiv. Ich schreibe Bücher, denke, bin leidenschaftlich. Meine Rolle ist es, die Leute vor den Gefahren zu warnen und etwas dagegen zu tun.“

 

 

Autor: Zygmunt Bauman
Titel: „Das Vertraute unvertraut machen — Ein Gespräch mit Peter Haffner“
Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
Verlag: HOFFMANN UND CAMPE VERLAG GmbH
ISBN-10: 345500153X
ISBN-13: 978-3455001532

 

 

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