Heinrich Geiselberger (Hg.): Die große Regression — Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit“
Am: | April 20, 2017
„Hic sunt leones“ (hier leben die Löwen): Mit diesen Worten markierten Kartographen jene unbekannten, weißen Flecken auf ihren Landkarten. Keiner wusste, wie es dort aussah und wer dort lebte. Solche weißen Flecken auf den Landkarten weiten sich seit einigen Jahren aus; es sind keine unbekannten Länder, sondern Regionen ohne Staatlichkeit, die durch Krieg und Terror ihrer staatlichen Strukturen beraubt worden sind. Syrien, Irak, und Afghanistan sind solche Länder, die im normalen Sinne schon längst keine funktionierenden Staaten mehr sind. Aus jenen Ländern und aus vielen Regionen Afrikas fliehen die Menschen, und ihre Migrationsbewegungen bringen in Europa in Handlungsnot. Denn nicht nur Krieg und Terror, sondern auch die globalen Auswirkungen des Neoliberalismus führen zu massenhafter Migration.
„Der Unmut über den Neoliberalismus und seine Krise kann unterschiedliche politische Formen annehmen. Manifestierte sich der Protest aufseiten der Linken oftmals in Form von gut vernetzten sozialen Bewegungen, so entstanden aufseiten der Rechten […] neue Parteien, andere wurden von Grund auf umgestaltet.“ So beschreibt die italienische Politikwissenschaftlerin Donatella della Porta die Situation: „Der Eindruck, wir erlebten eine große Regression, beruht auf Ereignissen, die im britischen Brexit und im Sieg Donald Trumps bei den Präsidentschaftswahlen gipfelten.“
Die ökonomischen Verwerfungen des Spät-Neoliberalismus und die latente Angst vor dem Terror führen zu einer Bedürftigkeit, die sich in der diffusen Hoffnung auf eine „securitization“ (Versicherheitlichung) artikuliert und zu einer postdemokratischen Symbolpolitik führt. Grenzen werden wieder neu gezogen, Zäune errichtet, Frontex- Einheiten verstärkt usw. Die Abschottung als ultima ratio der Politik zeigt die Hilflosigkeit Europas, mit den neuen Herausforderungen fertig zu werden.
Die Neue Rechte erntet überall in Europa die Früchte ihrer Protestkultur: In Osteuropa, in Großbritannien, in Österreich, in Frankreich, Skandinavien, der Schweiz und den Niederlanden sind die Rechten auf dem Vormarsch oder bereits in der Regierungsverantwortung. Wer die vergangenen zwei Jahre ohne Internet und andere Medien auf den Fidschi-Inseln verbracht hätte und jetzt nach Deutschland zurückkehrte, würde seinen Augen und Ohren nicht trauen: es scheint, als ob „in den unterschiedlichsten Bereichen Sperrklinkeneffekte außer Kraft gesetzt scheinen“, wie der Herausgeber dieses Bandes, Heinrich Geiselberger, es treffend formuliert.
Die Verrohung des öffentlichen Diskurses, die neue Unkultur der „Fake News“ und das populistische Abfeiern des Anbruchs einer postfaktischen Epoche — all dies trägt, sich gegenseitig verstärkend, zu einem Gefühl des Unwohlseins bei, was die politische Kultur in Deutschland, aber auch international betrifft.
Plötzlich scheint es nicht mehr undenkbar, dass zivilisatorische Errungenschaften, die für uns selbstverständlich waren, öffentlich und schadlos infrage gestellt werden könnten. Plötzlich ist es nicht mehr undenkbar, dass die Meinungsfreiheit, die Freiheit des Andersdenkenden, sogar die Unantastbarkeit der Menschenwürde für immer und alle Zeit festgeschriebene Werte unserer Gesellschaft sind und bleiben.
Wir sind mit der Idee des Fortschritts in Bezug auf den Menschen und seine Kultivierung aufgewachsen, und die kulturelle Evolution der Menschheit war — zumindest aus einer eurozentrischen und abendländischen Perspektive — eine Frucht der Aufklärung (jener Austritt der Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit), und ihre natürliche Folge war die Ausbreitung und Sicherung der Demokratie als desjenigen politischen Systems mit der größten Überzeugungskraft. Demokratie und Freiheit, Bildung und Kultivierung schienen uns als unhintergehbare Werte mit globalem Appeal. Die Zeichen standen immer auf Progression.
Doch es mehren sich beim Blick auf die geistige Situation unserer Zeit die Anzeichen dafür, dass wir uns ganz im Gegenteil in einer großen Regressionsbewegung wiederfinden. Der Rückschritt hin zu Religiosität, Nationalstaatlichkeit und Separation scheint international en vogue zu sein. Der Soziologe Oliver Nachtwey hat hierfür den seltsam klingenden, aber passenden Begriff einer „regressiven Modernisierung“ gefunden. Sie ist die Antwort der Nationalstaaten auf jene globalen Probleme, die der Neoliberalismus weltweit ausgelöst hat. Anstatt jene globalen Probleme mit Hilfe von transnationalen Organisationen und Lösungen anzugehen, scheint sich jeder Nationalstaat lieber in sich selbst zurück zu ziehen und seine eigenen Interessen an die erste Stelle zu setzen — zu Lasten aller Anderen.
Der vorliegende Sammelband erscheint zeitgleich in mehreren Ländern. Er beinhaltet Beiträge vieler bedeutender Intellektueller und Wissenschaftler; jede Autorin und jeder Autor will einen Beitrag leisten zum Anstoß einer internationalen Debatte über die geistige Situation unserer Zeit. Das ist ein großes und wichtiges Projekt, und der Suhrkamp-Verlag darf sich als Initiator und Koordinator dieser internationalen Debatte ruhig mal selbst auf die Schulter klopfen.
Die Liste der Beiträger dieses Sammelbandes ist wirklich beeindruckend: Arjun Appadurai, Zigmunt Bauman, Donatella della Porta, Nancy Fraser, Eva Illouz, Ivan Krastev, Bruno Latour, Paul Mason, Pankaj Mishra, Robert Misik, Oliver Nachtwey, César Rendueles, Wolfgang Streeck, David Van Reybrouck und Slavoij Žižek.
Der Reader „Die große Regression“ beleuchtet aus unterschiedlichen Perspektiven jenes Phänomen politischer, sozialer und gesellschaftlicher Rückwärtsbewegungen, die wir international beobachten können und mit denen wir uns auch in Deutschland zu beschäftigen haben. Die im September dieses Jahres anstehenden Bundestagswahlen werden zum Gradmesser des politischen Klimas in unserem Lande werden: Entweder bestätigt sich der Eindruck, dass es auch in Deutschland einen deutlichen Trend zu Populismus, Neonationalismus und Xenophobie; oder es gelingt den demokratischen Parteien noch einmal, mit guten Argumenten und einer klugen Politik das Ruder herumzureißen.
Eine internationale Debatte über die Ursachen jener großen Regression sowie über die Auswege und demokratischen Alternativen kann einen wichtigen Beitrag zu einer dringend erforderlichen Trendwende leisten. Einen ersten wichtigen Überblick sowie zahlreiche Einstiegspunkte in die Diskussion bietet dieser Sammelband im Suhrkamp-Verlag.
Autor: Heinrich Geiselberger (Hg.)
Titel: Die große Regression — Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit“
Taschenbuch: 319 Seiten
Verlag: Suhrkamp Verlag
ISBN-10: 3518072919
ISBN-13: 978-3518072912
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