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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Harald Welzer: „Wir sind die Mehrheit – Für eine Offene Gesellschaft“

Am: | März 16, 2017

In den letzten Jahren sieht man den Soziologen und Mitbegründer der gemeinnützigen Stiftung FuturZWEI, Harald Welzer, immer öfter im Fernsehen, und das ist gut so! Denn im Unterschied zu vielen anderen „Experten“, die von den Medien herangezogen werden, um ihre Beschäftigung mit einem aktuellen Thema mit einer Aura der Wissenschaftlichkeit zu umgeben, handelt es sich bei dem Soziologen und Sozialpsychologen Harald Welzer um einen Wissenschaftler und Intellektuellen, der keinen Wert darauflegt, möglichst interessant und kompetent zu erscheinen, sondern dem es um die Sache selbst geht. Der Mann hat eine Vision. Das ist in der deutschen intellektuellen Landschaft ebenso selten wie bemerkenswert.

Denn wir leben in einer Zeit des „Post-„, in einer Zeit, die ihre großen Visionen verloren hat und nur noch das schwache Nachglimmen der jeweiligen Anti-Bewegungen zu registrieren vermag. Es ist kühl geworden in den trockenen Gefilden der Intellektuellen, und leidenschaftliche Charaktere wie Welzer werden mit Skepsis betrachtet. Denn von jenen gibt es neuerdings wieder eine ganze Reihe: Man findet sie nur leider viel häufiger am falschen Ende des politischen Spektrums, bei den Rechtspopulisten und den Neurechten, für die „Demokratie“, „Freiheit“, „Europa“ und „Pluralismus“ Schimpfwörter sind. Diese Wahrnehmung mag jedoch täuschen, da die radikalen und rassistischen Ausfälle der Populisten deutlich präsenter in den Medien präsentiert und kommentiert werden, als die Äußerungen der vernünftigen und besonnenen Mehrheit.

Plötzlich kriechen ihre kruden Ideen und Ideologien wieder wie blasse Kröten aus jenen abgelegenen braunen Sümpfen hervor, die man seit Jahrzehnten abgeschrieben hatte und trockengelegt zu haben glaubte. Jetzt sind sie wieder da, die Werwölfe im Schafspelz, doch das rassistisches Heulen von damals hat sich mithilfe von viel Kreide in ein geschmeidiges populistisches Stimmchen verwandelt, das mit Leichtigkeit die Schäfchen um sich sammelt.

Betrachtet man eine Pegida-Veranstaltung aus sozialpsychologischer Perspektive, so bietet sich im Grunde ein bizarres Schauspiel: Auf der Bühne stehen die Wölfe im Schafspelz und heizen die Menge der ängstlich-zornigen Wutbürger mit brav gelernter Demagogie auf, bis die Volksverhetzung zum Breitensport mutiert. Von der Bühne jedoch schaut man auf die Masse der in Wolfskostüme gekleideten Schafe, die sich das eigene Denken allzu gerne abnehmen lassen zugunsten einer simplen Ideologie, die das eigene schiefe Weltbild nicht stört. Komplexität weicht der einfachen Endlösung, Vielfarbigkeit dem schwarzweißen Schema von Gut und Böse.

Wir leben in der besten aller möglichen Welten, doch wir haben verlernt, uns dessen bewusst zu sein. Viel lieber jammern wir und haben vor allem und jedem Angst, die keiner rationalen Grundlage bedarf. Harald Welzer zeigt die Hirnlosigkeit unserer Angst, indem er ein sehr eindrückliches Bild malt: Machen wir einmal richtig viel Panik und stellen uns vor, es kämen drei Mio. Flüchtlinge nach Europa. – In der EU leben zurzeit jedoch etwa 510 Mio. Menschen. Stellen wir uns also eine große Party vor, auf der über 500 Leute miteinander leben, lachen und feiern. Was würde passieren, wenn es plötzlich klingeln würde und drei weitere Gäste vor der Tür stünden?

Die Reaktionen der meisten EU-Mitgliedsstaaten auf diese Situation waren in der Tat höchst irreal und befremdlich: Anstatt die drei neuen Gäste einzuladen und sie in die europäische Party-Gemeinschaft von 2015 und 2016 zu integrieren, schrien die meisten Gäste hysterisch auf, man könne und wolle keine weiteren Gäste aufnehmen; sie hatten wirklich Angst um den eigenen Wohlstand und überlegten, wie man die Klingel an der Haustür abschalten könnte. – Leute, geht’s noch?!

Spätestens seitdem ein narzisstischer und permanent twitternder Präsident ins Weiße Haus eingezogen ist, dessen engster Strategieberater Bannon zuvor für den rechtskonservativen Medienkonzern Breitbart gearbeitet hat, haben hoffentlich auch die letzten Schlafmützen verstanden, dass es schon lange nicht mehr um Fakten geht, sondern um die „gefühlte Wahrheit“ der Nachrichten. Egal ob Hitler, Haider, Orban, Erdogan, Putin, Trump, Petry, Höcke, von Storch oder Gauland – immer wird dasselbe Prinzip angewandt, um die liberalen und demokratischen Medien an die Grenzen ihrer Belastbarkeit zu bringen:

Es wird gelogen, dass sich die Balken biegen, und die Medien reagieren im Reflex: Sie sehen ihre ethische Aufgabe und ihren gesellschaftlichen Auftrag darin, über diese Falschmeldungen zu berichten, sie aufzudecken, die möglichen Hintergründe zu recherchieren, das Ganze zu kommentieren, erneut zu hinterfragen… In der Zwischenzeit werden jedoch immer neue absurde Falschmeldungen produziert, die dann wieder von jenen Medien analysiert, recherchiert werden usw. usf.

Im Ergebnis werden die verantwortungsvollen Medien durch diesen Shitstorm lahmgelegt und gleichzeitig wird in den Medien der Autokraten derselbe Lügen-Schwachsinn so lange und so professionell wiederholt, bis es der kleine Mann glaubt. Dieser Mechanismus ist im Grunde längst bekannt, und trotzdem haben die verantwortungsvollen Medien keine andere Wahl, als sich dieser Fake-News (die ja von oben kommen und eben nicht von ihnen selbst!) medial anzunehmen. — Haben sie wirklich keine andere Wahl?

Doch die Medien übernehmen eine Schlüsselfunktion in diesen Zeiten „gefühlter Wahrheiten“. Wenn sie sich zu intensiv mit den Lügen der Populisten auf der einen Seite und mit der medialen Berichterstattung über Terror-Akte, „Gefährder“ und Islamisten auf der anderen Seite beschäftigen, so geben sie beiden Extremen viel zu viel Raum und schenken ihnen zu viel Aufmerksamkeit. Natürlich wäre es fatal für das Ansehen der Medien, sowohl die Lügner als auch die Massenmörder einfach zu ignorieren; jedoch muss man die Intensität der Berichterstattung und der Auseinandersetzung mit diesen Extremformen der Kommunikation völlig neu dosieren.

Terror ist Kommunikation, und die mediale Aufmerksamkeit ist deren eigentliches Kapital. In dem Moment, wo der Terrorakt nicht mehr kommuniziert würde, verlöre er auch rasch an Wirkung. Indem aber die Medien hocherregt über den Terror berichten, stundenlange Sondersendungen fahren, jeden noch so entfernten Experten zu seiner Meinung befragen usw., beschenken Sie die Islamisten mit einer Medienpräsenz, die vor allem eines deutlich macht: Der Westen ist nicht in der Lage, souverän auf den Terror zu reagieren. Er lässt sich auf einen Diskurs mit den Terroristen ein, übernimmt ungefragt ihr Narrativ, spricht (wenn auch in Anführungszeichen) vom „Islamischen Staat“.

Warum ist dieser kleine Exkurs in den Umgang mit dem Terror so wichtig? — Weil die Medien nahezu identisch auf die Lügen der Nationalisten, Rechtspopulisten und Neurechten reagieren. Auch hier wird stets in aller Ausführlichkeit berichtet, kommentiert und analysiert. Schließlich möchte man als demokratische Medien mit den neuen Lügenbaronen am rechten Rand kompetent umgehen und ihre frechen Behauptungen als Lügen aufdecken…

Dieser Umgang mit den Populisten ist schon vom Grundsatz her falsch. Der Populismus lebt von der Öffentlichkeit und von der medialen Veröffentlichung seiner Lügen. Je mehr die Medien diese Lügen wiederholen, desto „normaler“ werden die in ihnen getroffenen Aussagen. So macht man die rassistischen, antisemitischen und volksverhetzenden Parolen der Rechten auf die Dauer salonfähig.

Das Prinzip der „Disruption“ stammt ursprünglich aus der Wirtschaft. Laut FAZ ist Disruption das Wirtschaftswort 2015 gewesen. Man versteht darunter eigentlich „Zerbrechung“, „Zerreißung“, „Zerrissenheit“, „Spaltung“, „Bruch“, „Riss“ oder auch „Unterbrechung“. Im Wirtschaftskontext versteht man darunter die Zerlegung von Unternehmen in kleinere und profitablere Einheiten; früher hätte man von Zerschlagung gesprochen und es überhaupt nicht toll gefunden, aber in Zeiten der Globalisierung klingt „disruptiv“ natürlich irgendwie schick und modern. Bezogen auf den medialen Informationsfluss wird das zerstörerische Potenzial der Disruption jedoch besonders deutlich.

Disruptive Meldungen unterbrechen den medialen Flow der permanenten Aussendung von Informationen. Die Medien kommen aus dem Takt. Wenn der amerikanische Präsident seine Tweets in den digitalen Orkus sendet, unterbrechen die klassischen Medien sofort ihr Programm und befassen sich mit der Interpretation dieses Tweets. Dasselbe passiert, wenn ein Björn Höcke sich im Ton vergreift oder eine Frauke Petry „völkisch“ für ein akzeptables Wort hält.

Anstatt einfach nur kurz und knapp einen neuen Eintrag in der Rubrik „Lügenbarone und Verwirrte“ zu vermelden, springt die Presse voll darauf an. Sensationen bringen Einschaltquoten, und je unglaublicher die Meldung, desto besser fürs eigene Geschäft. Eine freiwillige Selbstkontrolle und -abstinenz der öffentlich-rechtlichen Medien wäre an dieser Stelle nicht nur eine gute Idee, sondern auch dringend erforderlich.

Ein ähnliches Problem, das aber leider nicht so einfach bzw. gar nicht mehr zu steuern ist, sind die sogenannten „sozialen Medien“. Hier haben wir es in der Tat mit einer von der Realität abgekoppelten Scheinwelt zu tun, in der sich die Leute je nach Interessenlage ihre eigene Wahrheit basteln können. Für jede Lüge findet man die entsprechenden Kanäle und „Freunde“, die die eigene Meinung teilen, und sei sie noch so skurril.

Social Media ist das digitale Sammelbecken für Verschwörungstheoretiker, Esoteriker und Fundamentalisten. Hier rekrutiert der IS seine „Follower“, und die Neue Rechte findet einen direkten Zugang zum Hirn ihrer Anhänger. Abkopplung von der Realität und die Konstruktion eines disparaten Wirklichkeitsbildes sind im Umgang mit diesen Medien besonders leicht herzustellen. Was in analogen Zeiten nur mit einem hohen technischen und zeitlichen Aufwand zu erreichen war (Indoktrination durch zielgruppengerechte Propaganda), wird in den sozialen Medien für den politischen und religiösen Fundamentalismus zum Kinderspiel.

Ein Schlüsseltheorem der Sozialpsychologie lautet: „Wenn Menschen Situationen für real halten, dann sind diese in ihren Folgen real.“ Der Glaube versetzt nicht nur Berge, sondern verschiebt auch die individuelle Wahrnehmung. Es geht hierbei um die „gefühlte Wahrheit“ und nicht mehr um Fakten. Seitdem sich die Politik von den Fesseln der Realität befreit hat und nur noch auf Emotionen setzt, hat sie einen Tabubruch begangen.

Die Rede vom „postfaktischen Zeitalter“, das spätestens seit dem Amtsantritt von Donald Trump begonnen haben soll, lässt schnell übersehen, dass wir mit der Demagogie der Rechtspopulisten nicht nur eine weitere Spielart der politischen Kommunikation erleben, sondern einen gezielten und permanenten Verstoß gegen die Grundregeln des Diskurses: Es wird bewusst gelogen, es werden gezielt und wiederholt Grenzen übertreten, Tabubrüche begangen.

Indem man das Unsagbare immer wieder sagt – und dann später wieder öffentlich dementiert oder seine Aussagen zurücknimmt, wird das Unsagbare irgendwann zum Sagbaren: So verschiebt man Grenzen und erweitert Stück für Stück den Bereich der Normalität über die Grenzen des Normalen. Auf diese Weise werden Normen verletzt, rote Linien überschritten und Perspektiven verschoben.

Im Winter 2015 hat Harald Welzer zusammen mit Freunden und Mitstreitern „etwas sehr Einfaches gestartet, nämlich eine Debattenreihe“ zum Thema Welches Land wollen wir sein? Seitdem engagieren sich mehr als 10000 Menschen in einer „Bewegung, die viele Gelegenheiten und Orte hat, wo man zusammenkommen kann, um sich gemeinsam für die Bewahrung von Freiheit und Demokratie einzusetzen.“

In Debatten, bei Essenstafeln, mit Flashmobs, auf Lesungen und Poetry slams, auf Demonstrationen, Festivals und vielen anderen Aktionen geht es um nichts Geringeres als um die Rettung unserer Demokratie und die Bewahrung multikulturellen Werte einer offenen Gesellschaft. In Anlehnung an den populistischen Wahlkampf-Slogan der Trump-Anhänger gibt Harald Welzer das Motto raus: „Let´s make Democracy great again!”

Das ist auch bitter nötig, denn wir leben wieder in spannenden Zeiten. So könnte man es positiv formulieren. Man könnte aber auch in Panik verfallen, wenn man die täglichen Nachrichten verfolgt. Die westlichen Demokratien fallen der Reihe nach um wie die Fliegen. Ein rechtspopulistischer Wahlsieg folgt dem nächsten. Allein das Jahr 2016 brachte mit dem „Brexit“ und mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten gleich zwei Mal den GAU, und es passieren Dinge, die man noch vor zwei Jahren nicht im Traum für möglich gehalten hätte. Dieser Albtraum ist jedoch nur die logische Fortsetzung eines Zerfallsprozesses der westlichen Demokratien, der bereits seit vielen Jahren fortschreitet und nun eine derartige Eigendynamik erreicht zu haben scheint, dass es nicht mehr ausgeschlossen ist, dass auch in Deutschland demnächst der Karren, bildlich gesprochen, in den Dreck fährt.

Das eigentliche Skandalon dieser politischen und kulturellen Abwärtsbewegung liegt aber nicht einmal in jener starken Rechtstendenz der politischen Orientierung, sondern in einem neuen Umgang mit der Wahrheit. Insofern haben wir es mit einem fundamental philosophischen Problem zu tun, dessen Hauptproblem jedoch darin liegt, dass sich die Akteure dieser rechtspopulistischen Bewegungen einen feuchten Hans um dieses Problem scheren. Mit anderen Worten: Das Problem mit der Wahrheit haben die Demokraten und nicht die Populisten.

Der kreative Umgang mit „alternativen Fakten“ oder die Rede vom „postfaktischen Zeitalter“, das nun spätestens mit der Wahl es neuen US-Präsidenten begonnen haben soll, machen deutlich, dass hier gleich mehrere Tabus gebrochen werden und werden sollen. Man möchte mal so richtig auf die Pauke hauen und den verweichlichten Demokraten den Marsch blasen, so scheint´s.

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Sprache der Medien. Aus einer massenhaften Migrationsbewegung aus dem syrischen Kriegsgebiet wird eine „Flüchtlingskrise“; schnell wurden die Willkommensgesten der ersten Wochen abgelöst von den Ängsten vor Überfremdung und der Sorge um die öffentliche Sicherheit. Merkels berühmter Ausspruch „Wir schaffen das!“ wurde schnell in ein skeptisches „Schaffen wir das?“ verkehrt, und die Medien werden seitdem nicht müde, auf die Probleme hinzuweisen, die Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen aus anderen Kulturkreisen zu betonen und immer schön Panik zu machen, wenn es um das Thema Flüchtlinge geht.

Diese Stimmungsmache zieht sich durch alle Medien, von den öffentlich-rechtlichen bis zu den privaten, ganz abgesehen von den Sozialen Medien, in denen sowieso das Recht des Lauteren und Stärkeren gilt. So wird immer deutlicher eine „Krise“ herbeigeredet, die so eigentlich gar nicht existiert. Und so wird immer wieder frisches Wasser auf die Mühlen der Neurechten gegossen, worüber sich Pegida, AfD und andere rechte Gruppierungen freuen.

„In den Feuilletons und Magazinen wird sogleich routiniert die paternalistische Differenzierungs-, Verstehens- und Analysemaschine angeworfen“, diagnostiziert Harald Welzer. Darin liegt übrigens die Hauptschuld der meisten großen Medien, die sich auf diese Weise zum Steigbügelhalter der Rechtspopulisten machen. Und auch die Regierungsparteien der GroKo greifen diesen Mythos gerne auf; der bayerische Ministerpräsident faselt bei laufender Kamera immer wieder von „Obergrenzen“, womit er wohl nicht die scheinbar sehr tiefliegende Intelligenz-Obergrenze seiner Anhängerschaft meint. So werden von allen Seiten Ängste geschürt und Unsicherheitsgefühle geweckt, anstatt sich auf die naheliegenden Aufgaben einer gelingenden Integrationspolitik zu konzentrieren.

Es entsteht ein gesellschaftliches Klima der Angst, der Sorge, des verengten Blickes. Das ist so gar nicht charakteristisch für unsere offene Gesellschaft, in der wir uns seit einigen Jahrzehnten des Friedens und der Pluralität eigentlich ganz gut eingerichtet haben. Plötzlich werden wieder Dinge infrage gestellt, die schon immer klar und vereinbart waren. Die Rede ist von unseren demokratischen Werten und den Regeln eines anständigen Umgangs miteinander.

Harald Welzer weiß genau wozu es führt, „wenn man sein Leben in Frieden, sicher, frei und selbstbestimmt führen darf: Dass man vergisst, wie kostbar das ist.“

Die offene Gesellschaft ist der demokratische Verfassungsstaat, ihre modernste Verfassung bis heute ist das Grundgesetz von 1949. Dadurch ist die offene Gesellschaft ist die zivilisierteste Form von Gesellschaft, die es jemals gegeben hat.

Die Offenheit einer Gesellschaft hat für ängstliche Charaktere einen entscheidenden Nachteil: Sie macht sie angreifbar. In einer offenen Gesellschaft gibt es keinen Stillstand, in ihr ist nichts in Stein gemeißelt, sondern eine offene Gesellschaft verändert sich permanent. Doch genau das macht ja ihre Stärke aus: das Vermögen, sich auf Veränderungsprozesse einzustellen und flexibel auf diese zu reagieren. Deshalb ist die offene Gesellschaft niemals perfekt, aber sie ist eine gute und lebendige Gesellschaft.

Harald Welzer konstatiert: „Die unperfekte Offene Gesellschaft ist die einzige Gesellschaftsform, die sich aus sich heraus modernisieren kann. Sie hat einen perfekten Mechanismus, mit dem sie verhindern kann, dass notwendige Veränderungen nicht geschehen: Regierungen können abgewählt werden.“

Die Demokratie, in der wir leben, ist nicht selbstverständlich, sondern wir müssen uns aktiv für sie einsetzen und sie verteidigen. Doch „es ist einfacher, für die Demokratie zu kämpfen, solange sie noch besteht. Danach wird es erheblich schwieriger.“

Feinde der Demokratie gibt es um uns herum immer mehr, denken wir an Polen und Ungarn, an Österreich, die Schweiz, an die Niederlande oder die Slowakei. Interessant ist jedoch, dass es sich in der Regel eher um knappe Mehrheiten handelt, die jene rechtspopulistischen und nationalistischen Parteien gewählt haben; sie wurden häufig nur gewählt, weil die Mehrheit nicht zur Wahl gegangen ist. Politikverdrossenheit und Protest führen demnach dazu, dass die Neurechten in den Regierungen mehr Gewicht bekommen als ihnen eigentlich zustünde.

Die große Mehrheit ist auch hier wieder einmal eine schweigende Mehrheit, die ihr Unbehagen mit der politischen Kultur allein durch Wahlverweigerung und durch eine Abwendung vom politischen Handeln zum Ausdruck bringt. Die Auswirkungen einer solchen Negativhaltung sind jedoch fatal; denn die Rechtspopulisten setzen – sind sie erst einmal gewählt – alles daran, „demokratische Prinzipien schnellstmöglich auszuhebeln“.

Die neuen Allianzen der Demokratiefeinde haben kein Interesse mehr an einem demokratischen Diskurs; ihnen geht es nur um eines: um ihre Macht. Doch der Kampf der Neurechten um die Macht beginnt schon viel früher, tagtäglich und medienwirksam: Einer der besten Marketing-Männer der AfD ist Horst Seehofer, der nicht damit aufhört, „die Themen und Begriffe der Rechten zu übernehmen und in die Mitte der Gesellschaft zu tragen“.

Der von den Rechtspopulisten ins Feld geworfene Mythos einer „Flüchtlingskrise“ und die um den Begriff der Obergrenzen entfachte Debatte in den etablierten Parteien zeigt allzu deutlich, wie sehr sich die Regierung vor den Karren der Rechten spannen lässt. Die „Verengung der politischen Debatte auf die Themen Flüchtlinge, Sicherheit, Angst“ macht deutlich, wie ideenlos die großen Parteien agieren. Anstatt sich auf die wirklich wichtigen politischen Themen zu beschäftigen, von denen es ja reichlich gibt (soziale Ungleichheit, Bildungspolitik, Klimawandel, Finanzmärkte usw.), nimmt man jede skandalöse Äußerung eines Rechtspopulisten zum Anlass, sich ausgiebig mit seiner Argumentation auseinander zu setzen.

So geht es am Ende fast nur noch um das Hauptthema „Die Anderen“, wobei sich der Rahmen des Sagbaren mit jeder neuen Äußerung von rechts immer weiter verschiebt und auf diese Weise die Gesellschaft in ihrem Gefüge verändern. Harald Welzer spricht hier zurecht von „shifting baselines“, womit er „die unbemerkte Verschiebung der normativen Maßstäbe meint, die man an Geschehnisse anlegt.“

Diese kollektive Verschiebung der Wahrnehmungen und Deutungen schadet jedoch der Demokratie und bringt sie ernsthaft in Gefahr. Denn das rechte Gedankengut sickert auf diese Weise nicht nur immer mehr in den politischen Diskurs ein, sondern wird zunehmend als „normal“ empfunden.

„Nicht die Angreifer der Demokratie und des Rechts erscheinen als Problem, sondern deren potentielle Opfer.“ Nicht die NPD, die AfD und ihre rechten Allianzen sind das Problem, sondern die Flüchtlinge, die Ausländer, die Gefährder. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Rechten existenziell abhängig sind von den Ausländern, den Flüchtlingen, den islamistischen Terroristen: ohne Flüchtlinge und Terror kein Wahlerfolg für die AfD. Wer die Angst vor Überfremdung auf seine Fahnen schreibt (und sonst keinerlei politische Aussagekraft besitzt), braucht den Fremden zur eigenen Legitimation.

In dem Siegeszug des Neoliberalismus sieht Harald Welzer ein weiteres zentrales Problemfeld im Hinblick auf unsere Gesellschaftsordnung: „Der ideologische Kern des Neoliberalismus [ist] ein radikaler Individualismus. […] Am schlichtesten und eindeutigsten hat das Margaret Thatcher formuliert, als sie mitteilte, so etwas wie Gesellschaft gebe es nicht, es gebe nur Individuen.“ Seitdem mussten und müssen die Menschen „leistungsbereit und leistungsfähig, gebildet, qualifiziert und anpassungsfähig sein, dazu gesund, flexibel und am besten dynamisch, unternehmerisch, kurz: zu allem bereit. Das neoliberale Projekt braucht ein Kollektiv von Ich-AGs, um seine Religion, den Markt, erfolgreich gegen staatliche Einflussnahme abzusichern.“

Das war vor nicht allzu langer Zeit einmal anders. Der universalistische Gedanke, der davon ausgeht, dass das Gemeinwohl über das individuelle Wohl zu stellen sei, geht bis auf die Zeit der Französischen Revolution zurück, ihren Siegeszug trat sie jedoch mit dem aufstrebenden Bürgertum an, das im 19. Jahrhundert seine politischen Rechte einforderte. „Dieser Universalismus ist mit dem Siegeszug des Neoliberalismus aber ganz praktisch und handfest durch eine gesellschaftliche Praxis ersetzt worden, in der die am besten wegkommen, die die besten Ausgangspositionen und Machtmittel haben und die in der Ökonomie der Aufmerksamkeit die vorderen Ränge belegen.“

Die gesellschaftlichen Folgen sind leider wohlbekannt: soziale Ungleichheit, Bildungsnotstand, Überwachung, soziale Kälte, Ausbeutung von billigen Arbeitskräften, Abbau der Sozial- und Kranken-Systeme, Privatisierung von Infrastruktur und Versorgungsdienstleistungen. Im großen Maßstab geht es um Fragen der Klima- und Umweltpolitik, der Sicherheitspolitik, der Nachhaltigkeit, der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit und des Friedens.

Das wären genügend wichtige Themen, über die es sich lohnen würde zu streiten. Stattdessen ist man jedoch lieber besorgt über den Zustrom von Menschen aus fremden Kulturkreisen, sieht den eigenen Wohlstand bedroht und sieht in jedem Kopftuch den bevorstehenden Untergang des Abendlandes. Doch Kultur ist ebenso wie die Gesellschaft nichts Statisches, sondern ein permanenter und hochdynamischer Prozess des Austauschs.

Die Neurechten glauben jedoch an eine hermetische und feste Gesellschafts- und Kultur-Struktur. Sie glauben an feste Grenzen und an solide Wertesysteme, auf die sie ihren Nationalstaat bauen können. Sie glauben an rigide Herrschaftsstrukturen, die ihre protektionistischen Träume durchsetzen.

Doch die Idee des „geschlossenen Handelsstaates“, wie ihn einst der deutsche Idealist Gottlieb Fichte entwarf, wäre heutzutage auch gar nicht mehr umsetzbar. Zu sehr sind die globalisierten Handelswege zur Normalität geworden, zu sehr sind die Ökonomien – und auch die Kulturen – miteinander verflochten, als dass man sich ernsthaft mit der Idee einer Abschottung befassen könnte: Wer Mauern baut, schließt sich selbst ein und baut sich selbst ein Gefängnis.

Seit sieben Jahrzehnten herrscht Frieden in Westeuropa. Niemals war die Demokratie in Gefahr. Doch die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist. Sie zeigt auch, dass die Populisten, sobald sie an der Macht sind, die liberalen und demokratischen Strukturen in einem rasenden Tempo demontieren und die Weichen in Richtung Protektion und Nationalstaatlichkeit stellen. Der rechte Populismus ist originär xenophob; das Fremde ist ihm unheimlich, und die Vielfalt macht ihm Angst.

Die Demokratie ist jetzt auch bei uns in Gefahr, denn sie ist nichts Statisches. Demokratie muss erarbeitet und muss verteidigt werden. Man muss für sie kämpfen. Für die Demokratie zu kämpfen, bedeutet aber auch, gegen die Neurechten zu kämpfen. Harald Welzer zeigt mit seinem Buch, wie das funktionieren kann: indem man wählen geht; indem man sich aktiv politisch betätigt; indem man im Freundes- und Bekanntenkreis, auf Arbeit und in der Freizeit immer wieder auf die Gefahr eines Rechtsrucks in Deutschland und auf seine Folgen aufmerksam macht.

Harald Welzers Buch ist ein politisches Buch, eine sehr engagierte und mit Zorn geschriebene Kampfansage an das Dummdeutschtum der Rechtspopulisten. Es ist ein Buch für die offene Gesellschaft und ihre Freunde, eine Streitschrift für die Demokratie — ein Buch, das mobilisiert und Lust macht auf politisches und gesellschaftliches Engagement.

 

Autor: Harald Welzer
Titel: „Wir sind die Mehrheit“
Taschenbuch: 128 Seiten
Verlag: FISCHER Taschenbuch
ISBN-10: 3596299152
ISBN-13: 978-3596299157

 

 

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