Hanns Zischler: “Kafka geht ins Kino”
Am: | März 14, 2017
Kafka und das Kino. Die Faszination war einfach zu groß. Das Wunder der bewegten Bilder zog den jungen Schriftsteller schon früh in seinen Bann. Welch starken Effekt die Kinobilder auf die damaligen Zuschauer gehabt haben müssen, können wir uns heute nur schwer vorstellen. Wir leben in einer von Bildern überfluteten Welt und kennen es nicht anders.
Seitdem Kafkas Texte dank ihrer Rettung und Bewahrung durch Kafkas Freund Max Brod an die Öffentlichkeit gelangten, wird Kafka in der Literaturwissenschaft rauf und runter dekliniert. Alle Texte Kafkas werden immer wieder analysiert, und alle Facetten des Autors scheinen ausgeleuchtet, und trotzdem hat Hanns Zischler mit seinem Kino-Kafka einen ganz eigenen Beitrag zur Kafka-Forschung geleistet, der auch von der Wissenschaft wahrgenommen und aufgegriffen wurde.
Im Jahr 1909 begann Kafka mit dem Tagebuchschreiben, und sein erster Eintrag lautete: „Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt.“ Diese Notiz bezog sich auf den kurzen Stummfilm Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof von La Ciotat, aus dem Jahre 1896. Was schon in diesem ersten Satz deutlich wird, ist Kafkas natürliche Beobachtungsgabe: Nicht er selbst erstarrt, als er den Zug auf der Leinwand auf sich zufahren sieht, sondern er registriert, wie die anderen Zuschauer um ihn herum erstarren, wie sie auf das Phänomen des Kinofilms reagieren.
Hanns Zischler ist auch ein kluger Beobachter, und jedes Buch, das er schreibt, ist es wert gelesen und weiterempfohlen zu werden! Als das Buch vor 20 Jahren erschien, sorgte es für großes Aufsehen. Seitdem hat Zischler nicht aufgehört, sich mit dem Thema zu beschäftigen, ganz im Gegenteil: Es gehört zu den schönen Seiten der Digitalisierung aller Lebensbereiche und der mit ihr verbundenen technologischen Entwicklung, dass nun auch die Filmarchive nach und nach digitalisiert und auf diese Weise der Nachwelt erhalten sowie der Öffentlichkeit erstmals zugänglich gemacht werden.
Die Filmunternehmen Pathé und Gaumont — um hier zwei Beispiele zu nennen — haben viele der zum Teil als verschollen geglaubten Stummfilme auf digitale Weise wieder zu Leben erweckt. Somit konnte diese zweite Ausgabe des Buches eine hochinteressante Erweiterung erfahren: Fortan liegt jedem Buch eine DVD mit sechs aufwändig vom Filmmuseum München restaurierten Filmen bei, die Kafka seinerzeit nachweislich im Kino gesehen hat! Der Vollständigkeit halber seien sie hier kurz genannt: „Straßenbahnfahrt durch Prag“ (Tschechien, 1908), „Erster internationaler Wettbewerb für Luftschiffe und Flugmaschinen, Brescia“ (Italien, 1909), „Nick Winter und der Diebstahl der Mona Lisa“ (Frankreich, 1911), „Die weiße Sklavin“ (Dänemark, 1911), „Peschiera“ (Italien, 1913) und „Rückkehr nach Zion“ (Palästina, 1921).
Diese Neuausgabe wird demnach nicht nur für Kafka-Adepten zur Pflichtlektüre, sondern bietet auch den Kino-Enthusiasten unter den Lesern die einmalige Gelegenheit, sich mithilfe der kurzweiligen Originaltexte von Kafka und dem dazugehörigen Filmmaterial sozusagen mit Kafka selbst ins Kino zu begeben und der Vorstellung beizuwohnen!
Ja, mehr noch: Der Leser ist in der beneidenswerten Lage, diese Filme sogar noch intensiver zu studieren, als es Kafka zu seiner Zeit vermochte. Die meisten Filme hatte Kafka nur ein einziges Mal gesehen; wir jedoch können sie so oft anschauen, wie wir möchten!
Falls jemand die erste Ausgabe dieses Buches (1996, ohne DVD) besitzt, sei ihm trotzdem die Neuausgabe ans Herz (und in den Warenkorb) gelegt. Denn die auf der DVD versammelten Filme wird man auf den einschlägigen Online-Plattformen wie YouTube eben gerade nicht finden.
Hanns Zischler hat die verstreuten Tagebucheintragungen, Notizen, Auszüge aus Geschichten, Briefen, Kritiken usw. zu sammeln und sie zusammen mit Plakaten und Film-Stills zu einer Art Collage zu montieren. Daraus ist ein interessantes multidimensionales Zeit-Bild entstanden, das uns nicht nur eine ganz neue und leidenschaftliche Seite Franz Kafkas näherbringt, sondern auch eine persönliche Geschichte des Kinos in seinen frühen Jahren erzählt.
Kafka und das Kino. — Kafka als Drehbuchautor, ja, das wär´ was! So weit ging die Liebe zum Kino aber dann doch nicht. Kafka war zwar sicherlich ein Freund starker Bilder, doch seine Heimat war die Sprache. Aber ab und an liebte er es, ins Kino zu gehen und sich von den bewegten Bildern verzaubern und forttragen zu lassen.
Autor: Hanns Zischler
Titel: “Kafka geht ins Kino”
Gebundene Ausgabe: 216 Seiten
Verlag: Galiani-Berlin
ISBN-10: 3869711051
ISBN-13: 978-3869711058
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