Deborah Vietor-Engländer: „Alfred Kerr – Die Biographie“
Am: | Februar 23, 2017
Die Schwester der Autorin, Shulamit Engländer Amir, wurde mit zwölf Jahren durch einen Kindertransport von Prag ins englische Exil gebracht und gerettet. Sie empfahl der jüngeren Schwester die Lektüre des Jugendromans „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ (1971) von Kerrs Tochter Judith. Dadurch inspiriert, begann sich die renommierte Literaturwissenschaftlerin mit dem Leben und Werk von Alfred Kerr zu beschäftigen.
Judith Kerr beschrieb das Leben ihres Vaters Alfred und die Flucht der Familie in jenem Roman auf eine Art und Weise, die die Autorin stark an ihren eigenen Vater Otokar Engländer und an seine Erzählungen erinnerte. Beide Männer teilten in London dasselbe Schicksal des ungewollten Exils. Über die Beschäftigung mit Alfred Kerr, das Studium seiner Briefe und Aufzeichnungen lernte die Autorin auch ihren eigenen Vater und seine Lebensverfassung im Exil besser verstehen. Daher verwundert es nicht, dass die Beschreibungen der Exil-Situation, der „Sprachlosigkeit“ in einem fremdsprachigen Land sowie der permanent zwischen Hoffnung und Verzweiflung pendelnden Gemütsverfassung der deutschen Exilanten zu den stärksten und eindrücklichsten Passagen dieser großen Biographie zählen. Die Autorin gab diesem letzten Abschnitt der Kerr-Biographie den treffenden Titel „Der Sturz ins Nichts“.
Wenn an dieser Stelle die Rede von einer „großen Biographie“ ist, so hat dies seine Berechtigung. Denn „groß“ ist diese Biographie gleich in mehrfacher Hinsicht: Zunächst beeindruckt der dicke Band mit seinen über 700 Seiten und seinem wissenschaftlichen Apparat (Anhang, Personenregister, Literaturverzeichnis) von über 50 Seiten.
Weiterhin ist es dem unermüdlichen Forscherdrang der Autorin zu verdanken, dass sie den umfangreichen Briefwechsel Kerrs durch die Auswertung von sogenannten „Gegen-Nachlässen“ ergänzen und vervollständigen konnte. Gegen-Nachlässe sind in diesem Fall die Nachlässe der Briefpartner Kerrs.
Vor allem aber wird diese Kerr-Biographie durch das erstaunliche psychologische Einfühlungsvermögen der Autorin zu einer „großen“ Biographie. Zu einem nicht unerheblichen Teil mag diese Fähigkeit mit der eigenen Biographie der Autorin verbunden sein: Deborah Vietor-Engländer wurde 1946 als Kind jüdischer Emigranten in London geboren und wuchs zweisprachig auf; ihre Eltern mussten vor den Nationalsozialisten nach England fliehen.
So erging es auch dem berühmten Theaterkritiker und Schriftsteller Alfred Kerr. Er floh bereits 1933 aus Hitlerdeutschland; zunächst ging es nach Prag, später nach Lugano, Zürich, Paris und schließlich nach London. Diese Flucht beschrieb Kerrs Tochter Judith sehr eindrücklich in ihren Romanen „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“, „Warten bis der Frieden kommt“ und „Eine Art Familientreffen“.
Was die Autorin an ihren Eltern beobachten konnte — die Schwierigkeiten mit der neuen Sprache und den existenziellen Verlust der eigenen (Sprach-)Heimat durch die Flucht — schien auch das Schicksal Alfred Kerrs gewesen zu sein. Die intensive Beschäftigung mit den zahlreichen Stationen seines Lebens (und hier besonders die Zeit des englischen Exils) eröffnete ihr einen neuen Zugang zum Leben des eigenen Vaters. Sie lernte ihn in der Rückschau besser zu verstehen, und umgekehrt wies ihr der Vergleich beider Lebenswege den Weg zu einer einfühlsamen Beschreibung der Exilzeit von Alfred Kerr.
Diese Alfred-Kerr-Biographie der englischen Literaturwissenschaftlerin Vietor-Engländer ist viel mehr als eine Aneinanderreihung von biographischen Daten; obwohl sich die Autorin auch an das Grundgerüst einer chronologischen Ordnung hält, werden nicht einfach die Stationen des bewegten Lebens eines deutschen und jüdischen Intellektuellen im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgearbeitet. Vielmehr ist der Autorin das Kunststück gelungen, ein Psychogramm, ein stimmiges Gesamtbild der Persönlichkeit Alfred Kerrs zu erschaffen.
Für eine Literaturwissenschaftlerin mag die Orientierung am Wort, an den geschriebenen Texten naheliegend sein, was ja für die Biographie eines Schriftstellers und Kritikers auch seine Berechtigung hat; doch Vietor-Engländer nimmt die Texte und Sujets Kerrs lediglich als Anhaltspunkte und inhaltliche Aufhänger, um den geschlungenen Lebensweg Kerrs in einer psychologischen Tiefe zu beschreiben, die jenes Sachbuch in weiten Teilen so lesbar und spannend wie einen Roman machen.
Die Fülle an Fakten, die die Autorin in langjähriger und mühseliger Forschungsarbeit zusammengetragen hat, ist beeindruckend. Fast noch beeindruckender ist jedoch die Tatsache, dass jene Faktendichte den Text ihrer Biographie zu keiner Zeit belasten oder überfrachten. Die bunte Lebens- und Schaffensgeschichte Alfred Kerrs liest sich — nicht zuletzt durch die Unterteilung in viele kurze Kapitel — wie ein spannender Fortsetzungsroman. Gleichwohl erfüllt diese Biographie auch alle Ansprüche an eine wissenschaftliche Arbeit; der umfangreiche Apparat bietet alle nötigen Quellenangaben und zahlreiche Literaturhinweise zur vertiefenden Forschungsarbeit.
Deborah Vietor-Engländer ist seit einiger Zeit mit der Edition der Gesamtausgabe der „Plauderbriefe“ Alfred Kerr beschäftigt. In der Zeit von 1897 bis 1922 schrieb Kerr neben seinen unzähligen bissigen Theaterkritiken, die ihn so berühmt und in der Theaterwelt gefürchtet machten, jene „Berliner Briefe“ für die Breslauer Zeitung und die Königsberger Zeitung. In ihnen findet sich eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte der aufstrebenden Metropole. Kein anderer hat die Entwicklung Berlins so kontinuierlich und über eine solch lange und entscheidende Phase ihrer Stadtgeschichte verfolgt. Und kein anderer hat so genau hingeschaut und die Skandale und Skandälchen der Berliner Gesellschaft so treffend geschildert. Wenn jene Gesamtausgabe der „Plauderbriefe“ erscheint, bietet sie den Kulturwissenschaften eine Fülle an bislang vergessenem oder nur sehr schwer zugänglichem Material zur eigenen Forschung.
Bevor man sich jedoch auf die komplette Edition dieser Berliner Briefe freut, die in Auszügen schon in Taschenbüchern erschienen sind, sollte man sich mit dem Leben und Werk ihres Urhebers befassen. Die Lebensgeschichte Alfred Kerrs ist nicht nur exemplarisch für einen jüdischen Intellektuellen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; sondern sie lässt uns ahnen, wie sehr die technischen, politischen und gesellschaftlichen Veränderungen den Lebensweg eines Menschen immer wieder beeinflussen und wie weit ein starker Charakter wie der Alfred Kerrs in der Lage ist, seinen eigenen Weg gegen alle Widerstände zu gehen.
Autor: Deborah Vietor-Engländer
Titel: „Alfred Kerr – Die Biographie“
Gebundene Ausgabe: 720 Seiten
Verlag: Rowohlt
ISBN-10: 3498070665
ISBN-13: 978-3498070663
Tags: alfred kerr > Alfred Kerr Biographie > berlin > berliner briefe > berliner moderne > biographie > deborah vietor-engländer > exil > exiljuden > hauptmann > ibsen > juden > jüdisches leben > kritik > Literaturwissenschaft > plauderbriefe > Rezension Alfred Kerr > Rezension Alfred Kerr – Die Biographie > Rezension Deborah Vietor-Engländer Alfred Kerr > Rezension Deborah Vietor-Engländer Alfred Kerr – Die Biographie > theater > vietoe-engländer > Vietor-Engländer Alfred Kerr Biographie