Roger Willemsen: „Wer wir waren“
Am: | Dezember 21, 2016
Wir sind einfach zu nah dran, um das Bild der Gegenwart in seiner Gänze zu erfassen. Schlimmer noch, wir kleben nicht nur mit der Nase an der Bildoberfläche, sondern wir sind ein Teil des Bildes selbst. Wie soll man aus einer solchen Position einen vernünftigen und verständigen Blick auf die eigene Gegenwart werfen? Wäre es möglich, die eigene Gegenwart zu verstehen, indem man den Standpunkt eines zukünftigen Betrachters einnimmt?
Diesen kleinen Kunstgriff hat Roger Willemsen angewendet, als er an seinem letzten Buchprojekt arbeitete, das den Arbeitstitel „Wer wir waren“ trug. Leider blieb das Projekt in seinen Anfängen stecken: Nachdem Roger Willemsen im Sommer 2015 von seiner Krebserkrankung erfuhr, legte er den Stift beiseite und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück.
In seiner letzten Rede im Rahmen der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern im Juli 2015 hielt Willemsen eine überarbeitete Fassung seiner „Zukunftsrede“, die jetzt, ergänzt durch die letzten schriftlichen Änderungen des Autors, in einem kleinen Büchlein im S. Fischer-Verlag erschienen ist.
Willemsen analysiert unsere Gesellschaft und kommt zu einem ernüchternden Ergebnis. Schonungslos identifiziert er unsere Schwächen, die zahlreichen Psychopathologien der Postmoderne, und er beschreibt, wer wir waren, aus der Zukunft rückschauend betrachtet. Seine Diagnose ist alarmierend:
Während frühere Generationen den Menschen in seiner Individualität bestärkten und seine Einzigartigkeit feierten, laufen wir heute Gefahr, unter dem Diktat der Ökonomie alle Individualität aufzugeben zugunsten einer möglichst stromlinienförmigen und geschmeidigen Konsumenten-Existenz.
„Unser Beitrag zu dieser Geschichte [der Individualisierung] ist der Begriff ‚Selbstoptimierung‘. […] In den Himmel unserer Vorbilder promovierten wir den Rechner, vorbildlich durch seine Geschwindigkeit, seine Kapazität, seine Leistungsfähigkeit auf dem Feld der unendlichen Parallelhandlungen, ein Ebenbild, das nicht sucht, nicht irrt, nicht zögert, das keinen Raum lässt für die Unterbrechung, die Erschöpfung, den Interimszustand, den Irrweg, die Ratlosigkeit der Pause, den Skrupel.“
Der Rechner ist zum Leitbild unserer permanenten Selbstoptimierung geworden, seine Rationalität wird zum Ideal, seine Features zum Gradmesser unserer eigenen Anstrengungen. Damit automatisch verbunden sind unser Versagen und das Scheitern am übergroßen Vorbild.
Doch im Wettlauf mit den Maschinen geht uns nicht nur die Gegenwart verloren, sondern wir verlieren auch die Zukunft aus den Augen. War Zukunft früher ein nahezu unendlicher Möglichkeitsraum, der genügend Platz für eigene Träume und klar umrissene Wünsche ließ, so erscheint uns der Zukunftsbegriff wie in einen diffusen Nebel getaucht: unsicher und dunkel. Oder im Gegenteil sogar sehr vorhersehbar und katastrophal. Was bleibt, ist die Zukunft als planbares Nahziel, als das Morgen, das wir kalkulieren, organisieren und steuern müssen.
„Ich sehe uns in dieser Zeit stehen, wie die Leute auf Fotos, die vor zehn Jahren in den Zeitschriften erschienen, als die Abgebildeten noch nicht wussten, dass sie ihr Haus verlieren, von der Dürre vertrieben, vom Krieg versehrt, in die Nervenklinik eingewiesen, auf Entzug gesetzt, von der Insolvenz ereilt würden.“ Wir selbst können uns nicht als diejenigen sehen, die wir einmal gewesen sein werden. Doch für die zukünftigen Betrachter werden die Zeichen des Verfalls, diese kleinen Vorboten des kommenden Unheils, die um uns herum sind, ganz deutlich zu erkennen sein: Sie werden sie sehen können, wir Heutige jedoch erkennen sie nicht.
Willemsens Rede ist radikal, sie geht an die Wurzeln unserer Gegenwart, legt sie frei und zeigt mit dem Finger auf sie. Der Text ist nicht nur vielschichtig und mehrdeutig, sondern fasziniert auch durch seine schöne und geschliffene Sprache. Roger Willemsen war nicht nur ein geist- und kenntnisreicher Autor, Übersetzer, Dozent, Wissenschaftler, Honorarprofessor, Moderator und Regisseur, sondern vor allem auch ein Romancier. Die Poetik seiner Texte sorgte dafür, dass seine Essays, Reportagen und Berichte stets klug und spannend, anregend und bewegend waren.
„Wer wir waren“ wäre ein wichtiger Beitrag zur Diskussion über den Status Quo und die Zukunft unserer offenen Gesellschaft gewesen. Wie dieser Beitrag hätte aussehen können, zeigt Willemsens „Zukunftsrede“ auf eindrückliche Weise. Dieses nicht mehr geschriebene Buch wird uns fehlen. Die Aufgabe für uns Hinterbliebene sollte es sein, die von Roger Willemsen gelieferten Vorgaben aufzunehmen und weiter zu entwickeln.
Autor: Roger Willemsen
Titel: “Wer wir waren”
Gebundene Ausgabe: 64 Seiten
Verlag: S. FISCHER
ISBN-10: 3103972857
ISBN-13: 978-3103972856
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