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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Terry Eagleton: „Literatur lesen — Eine Einladung“

Am: | November 9, 2016

Terry Eagleton: „Literatur lesen — Eine Einladung“„Die Kunst, Werke der Literatur zu analysieren, ist beinahe genauso veraltet wie der Holzschuhtanz.“ — Mit dieser scheinbar defätistischen Aussage beginnt das neue Buch des britischen Literaturwissenschaftlers Terry Eagleton. In ihm bricht er eine Lanze für das „langsame Lesen“ von Literatur.

Warum sollte man sich mit der Analyse und Interpretation von Literatur beschäftigen? Aus einem ganz einfachen Grund: weil es kaum eine bessere Schule des Lebens gibt als die intensive Beschäftigung mit literarischen Werken! Sie liefern uns exemplarische Entwürfe der Wirklichkeit, zeigen aus verschiedenen Perspektiven, wie sich Möglichkeitsräume eröffnen lassen, bieten uns die Gelegenheit, für die Zeit der Lektüre in die Haut unendlich vieler literarischer Figuren zu schlüpfen und auf diese Weise mit uns selbst auszumachen, wie wir uns in den entsprechenden Lebenssituationen verhalten würden oder verhalten sollten.

Literatur beschäftigt sich in fiktionalen Texten mit moralischen Themen und lässt uns in Berührung mit Menschen und Situationen kommen, denen wir im echten Leben entweder nie begegnen oder denen wir lieber ausweichen würden. Lesen — verstanden als die intensive Beschäftigung mit Literatur auch über den eigentlichen Akt der Lektüre hinaus — kann eine hochkomplexe und extrem lehrreiche Beschäftigung sein, vorausgesetzt man wendet die nötige Zeit und Mühe auf, sich mit einem Text aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlichen Fragestellungen auseinander zu setzen.

Mit dieser Einführung in das literaturwissenschaftliche Arbeiten versucht Terry Eagleton den Leser dazu zu ermutigen, ein literarisches Werk nicht nur einfach zu konsumieren und in dessen fiktionale Welt für die Zeit der Lektüre einzutauchen, sondern sich durch langsames und wiederholtes Lesen einmal genauer anzuschauen, wie ein Text gemacht ist. Denn in der Regel ist der Stil und die Wortwahl alles Andere als zufällig, sondern mehr oder weniger bewusst gewählt. Kein Werk von literarischer Bedeutung (egal ob Lyrik, Essay, Erzählung oder Roman) ist ein Produkt des Zufalls, sondern basiert immer auf einem soliden Handwerk und dem professionellen Umgang mit Sprache.

Man kann diese Einführung in die Interpretation und Analyse von literarischen Texten aber auch noch auf einer anderen Ebene lesen. Was hier über Literatur im Allgemeinen, über ihre Interpretation und Bewertungen sowie über Erzählstrukturen, Eröffnungssätzen, Figuren und Erzählweisen im Besonderen gesagt wird, liest sich wie eine Anleitung zum besseren Schreiben. Wer sich mit dem Kreativen Schreiben beschäftigt oder gar schriftstellerische Ambitionen hat, wird in diesem Buch eine sehr schöne Einführung in das literarische Schreiben finden.

Aus dem Englischen übersetzt von Holger Hanowell kommt der Text sehr flott und leichtfüßig daher. Was naheliegend ist, wird vielleicht manchen Leser stören: Die ausgewählte und zitierte Literatur stammt natürlich aus dem englischsprachigen Raum. Die analysierten Textpassagen stammen daher von Chaucer, Shakespeare, Austen & Co., also überwiegend aus Werken der klassischen englischen Literatur.

Was zunächst als ein Manko dieser Publikation erscheint, stellt sich jedoch während der Lektüre schon bald als Vorteil heraus: Zum einen wird die Aufmerksamkeit des (literaturwissenschaftlichen) Lesers nicht durch freie Assoziationen bezüglich bekannter Stoffe zum Abschweifen veranlasst; zum anderen wird die Konzentration auf die literaturwissenschaftlichen Instrumente der Analyse und textnahen Interpretation gelegt. Vielleicht wird sogar der eine Leser oder die andere Leserin durch diese Einführung dazu verführt, sich in Zukunft näher mit den Hauptwerken der englischen Literatur zu beschäftigen. Im Anhang findet sich eine komplette (Lese-)Liste der zitierten Werke.

Die meisten Leser kennen Terry Eagleton als Literaturtheoretiker. In diesem Buch wendet er sich explizit der literaturwissenschaftlichen Praxis zu. Dies mag verwundern, ist jedoch alles Andere als ein Widerspruch. Denn die Arbeit des Literaturwissenschaftlers findet natürlich niemals im luft- und theoriefreien Raum statt, sondern fundiert alle analytische Praxis auf einer soliden theoretischen Basis; auch in dieser Hinsicht stimmt hier alles.

Terry Eagletons leicht lesbare und sehr gut verständliche Verführung zum „langsamen Lesen“ literarischer Werke wird hoffentlich viele Leser finden. Er zeigt anhand vieler Beispiele, dass Literatur sehr viel mehr sein kann als nur der literarische Text: Sie ist in der Lage, uns die Welt mit anderen Augen sehen zu lassen und uns in unzähligen Varianten zu erklären, was es heißt, ein Mensch zu sein.

 

Autor: Terry Eagleton
Titel: „Literatur lesen — Eine Einladung“
Taschenbuch: 268 Seiten
Verlag: Reclam, Philipp, jun. GmbH
ISBN-10: 3150109671
ISBN-13: 978-3150109670

 

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