Richard David Precht: „Tiere denken — Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen“
Am: | Oktober 29, 2016
Richard David Precht wollte als Kind Zoodirektor werden. Zu Beginn seines Buches schreibt er, der sensible Umgang mit den Tieren und das Verhältnis von Mensch und Tier sei so etwas wie sein „Lebensthema“. Sein Buch handelt von der Schwierigkeit, die ein denkendes Tier hat, wenn es sich eine Vorstellung vom Innenleben anderer Tiere macht.
1997 verschlug es den Autor durch Zufall nach Braunschweig zu einem Kongress über „Tier – Rechte – Ethik“. Es war, wie er selbst schreibt, sein intellektuelles Woodstock in Sachen Tierethik. Noch im gleichen Jahr erschien sein Buch „Noahs Erbe“. Das jetzt erschienene Buch „Tiere denken“ ist keine Neuauflage von „Noahs Erbe“, sondern wurde in weiten Teilen neu geschrieben und nimmt die zahlreichen Entwicklungen auf, die im Bereich der Forschung, des Tierschutzes und der Tierrechtsbewegung im Laufe der letzten fast 20 Jahre stattgefunden haben.
Prechts Schreibansatz ist, wie man dies aus seinen anderen Büchern kennt, sehr ausführlich; seine Recherchen sind weitreichend und umfassend. Das spricht für seine Kompetenz; wenn er sich in ein Thema einarbeitet, dann will er es ganz genau wissen und bietet dem Leser eine Rundum-Sicht auf den aktuellen Forschungstand. Die Gliederung des Buches ist logisch und gerade vorbildlich: So geht es zunächst um Begriffsklärungen und das Aufzeigen der verschiedenen Standpunkte, bevor dann eigene Argumentationen des Autors ins Spiel kommen, die am Ende zur Grundlegung einer neuen Tierethik führen und diese auch gleich noch in exemplarischen Feldern mit pragmatischen Überlegungen verknüpfen.
Die Sensibilität im Umgang mit Tieren ist in den westlichen Industrienationen in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Trotzdem haben die meisten von uns kein Problem damit, Tiere zu essen, die zuvor als „Nutztiere“ gehalten und geschlachtet wurden.
Precht schreibt: „Noch nie war die Kluft so groß, die das, was Menschen im Umgang mit Tieren für richtig halten, und das, was tatsächlich praktiziert wird, voneinander trennt.“ Somit sei es dringend an der Zeit, sich um eine neue Tierethik zu bemühen und die Grundlagen dieser Ethik dann auch in unser Handeln einfließen zu lassen, meint Precht.
Schon vor etwa 10 000 Jahren hat der Mensch gelernt, die Rohstoffreserve Tier planmäßig zu züchten. Die Ausbeutung der Tiere als Nutz- und Arbeitstiere sowie als Nahrungsmittel zieht sich durch alle Zeitalter und Kulturen. „In atemberaubendem Tempo beschleunigte das industrialisierte 20. Jahrhundert die Beherrschung und Ausbeutung der Natur und mit ihr der Tiere.“
Doch was könnten überhaupt die Kriterien dafür sein, Tiere moralisch zu achten? Ist es ihre Leidensfähigkeit, ihr Lebenswille oder ihre Intelligenz? Richard David Precht hält die Neubewertung des Verhältnisses des Menschen zu den anderen Tieren für eine große und schwierige Aufgabe. Dieser Aufgabe stellt er sich auf über 450 Seiten seines spannend und sehr lehrreich geschriebenen Buches.
Als Philosoph geht Precht diese Aufgabe logisch an: „Um menschliches Handeln zu verstehen, müssen wir verstehen, in welchem Rahmen Menschen die Welt sehen.“ Das sind zunächst der biologische und der kulturelle Rahmen. Sie sind fundamental für unsere Sicht auf die Welt und mit ihr auf die Tiere.
Der biologische Rahmen wird gesetzt durch die Naturwissenschaften und ihre Einordnung von Mensch und Tier in ein kategoriales System. Man versucht, die Welt nach taxonomischen Kriterien zu ordnen. Doch allein schon eine Dichotomie von Mensch und Tier ist bei genauerem Hinsehen äußerst fragwürdig: Was macht den Menschen aus? Was distinguiert ihn vom Tier? Und stimmt diese Unterscheidung überhaupt?
Schon die alten Griechen, allen voran Aristoteles, haben sich für die Natur interessiert und versucht, eine Systematik zu ihrer Erfassung zu entwickeln. Viele Jahrhunderte später war es René Descartes, der den Tieren ihre Seele absprach und ihre Körper als eine Art von Maschinen ansah. Im 18. Jahrhundert war dann Carl von Linné der erste Naturforscher, der so etwas wie ein beschreibendes System der Natur zustande brachte, ohne auf den theologischen Firlefanz seiner Zeit zurückzugreifen. Gleichwohl war auch Linnés System keineswegs „natürlich“, sondern ein menschliches Konstrukt.
Für Precht ist der Widerspruch zwischen einer taxonomischen und einer ökologischen Ordnung der Natur offensichtlich. Doch es hinderte den Menschen bis heute nicht daran, die ökologische Ordnung der Natur schlichtweg zu ignorieren und sich „die Natur untertan“ zu machen…
Der Mensch als „Krone der Schöpfung“ erhielt die göttliche Legitimation für seine Unterwerfung der restlichen Natur von „ganz oben“. Aber auch die biologischen Erklärungsversuche für die Vorrangstellung des Menschen waren zahlreich und vielfältig: Charles Darwin entwickelte eine ausgefeilte Theorie zur „Entstehung der Arten“. Die Idee vom Kampf um die besten Plätze stammt von Herbert Spencer, der den Begriff vom „survival of the fittest“ ins Spiel brachte, den auch Darwin gerne aufnahm.
Wie Charles Darwin ging es auch dem Atheisten Ernst Haeckel darum, die Entstehung der Arten aus einem Wettkampf um die Spitzenposition im Tierreich heraus zu erklären. Die Kriterien dieses Wettkampfes, der nach rein menschlichen Spielregeln stattfinden sollte, waren: Intelligenz, Rationalität, Religion, Lautsprache und Kultur. Kein Wunder, dass der Mensch unter allen Tieren am besten abschloss.
Jean-Baptiste de Lamarck wiederum behauptete die allmähliche Entwicklung der Arten aus primitiveren Vorformen; er war davon überzeugt, dass sich die körperlichen Anstrengungen der Tiere auf ihr Erbgut auswirken — eine Vermutung, die sich als falsch herausstellte.
Doch was ist eigentlich Intelligenz? Und wie weit reicht überhaupt das menschliche Erkenntnisvermögen? Ist es nicht eher so, dass wir durch unseren eigenen (menschlichen) Wahrnehmungsapparat für immer beschränkt sind auf unseren eigenen Erkenntnishorizont und niemals wirklich wissen können, wie der Philosoph Thomas Nagel einmal schrieb, wie sich eine Fledermaus fühlt? Natürlich können wir ahnen, wie es sich anfühlt, blind und mit Ultraschall-Sensoren ausgestattet, durch die Dunkelheit zu fliegen. Doch wie es sich für eine Fledermaus anfühlt, wird sich unserem menschlichen Erkenntnisvermögen niemals erschließen.
Precht fasst dieses Dilemma zusammen: „Wer immer über das Verhältnis von Mensch und Tier in der Gesellschaft nachdenkt, ist ein Gefangener. Er hat eine Position, von der aus er urteilt. Es bleibt uns kein anderer Weg, als die komplexen Gefühle der Tiere nach Maßgabe unserer eigenen Empfindungen einzuschätzen. Die Tücke des Subjekts, das wir selbst sind, ist die Begrenztheit unseres Erkenntnisvermögens.“ Mit anderen Worten treffen unsere Einschätzungen immer über den Umweg der Vermenschlichung tierischer Gefühle. Dass man damit nicht weit kommen kann, ist eigentlich klar.
Im Grunde ist die Mensch-Tier-Grenze ein ziemlich willkürliches Spiel mit Worten… Die bislang gesuchte Grenze zwischen Mensch und Tier verschwimmt auf allen Feldern. Letztlich ist es auch nicht die biologische Ausstattung, die uns als Menschen definiert, sondern unser kultureller Horizont, der sich im Laufe der Geschichte immer wieder verändert hat. „Man muss also immer schon wissen, was ein Mensch ist, um ihn zu erkennen und zu identifizieren“, schreibt Precht: „Was ein Mensch ist, bestimmt demnach notwendig die menschliche Kultur.“
Stellt man also die Frage nach der Intelligenz, so verdankt es sich, wie man heute weiß, vor allem den Nöten und Notwendigkeiten des sozialen Handelns. Dabei stellen sich allen Primaten die gleichen sozialen Grundprobleme: Darf ich meinen Artgenossen töten? Wie gehe ich mit älteren Gruppenmitgliedern um? Wie integriere ich mich in die Gemeinschaft und wie bekomme ich guten Sex?
All diese Fragen, die zum Überleben in der Gruppe und zur Reproduktion des eigenen Erbgutes entscheidend sind, schärfen die Intelligenz. Wir müssen im Umgang mit unseren Artgenossen lernen, sie zu durchschauen: Emotionaler Reflex, Empathie und die Kunst, in vollem Umfang die Perspektive eines anderen einnehmen zu können, sind nach dem niederländischen Zoologen und Verhaltensforscher Frans de Waal die drei Stufen der moralischen Evolution. Dies ist jedoch bei Schimpansen und Bonobos nicht anders als bei uns Menschen.
Was unterscheidet als Menschen von Tieren? Ist es vielleicht doch die Sprache, die wir haben und die anderen Arten nicht? Wenn wir in diesem Zusammenhang von Sprache reden, meinen wir eine Lautsprache, in der wir mit Hilfe unseres Kehlkopfes, einer freien Zunge und den Stimmbändern differenzierte Laute formen können, die etwas bedeuten. Die Einzigartigkeit der menschlichen Sprache besteht nun darin, dass wir diese Laute, die Worte, auf eine doppelte Weise symbolisch verwenden: Zum einen ist das Wortzeichen selbst ein Symbol. Zum anderen eröffnet das Wort einen symbolischen Bedeutungsraum. Wenn wir das Wort „Liebe“ verwenden, so implizieren wir mit seinem Gebrauch auch Bedeutungen wie „Treue“, „Nähe“, „Fürsorge“, „Hingabe“ usw.
Letztlich lässt sich jedoch die Sprache vom Sozialverhalten nicht trennen. Wir sprechen (zumindest im Normalfall) nicht mit uns selbst, sondern immer mit dem Anderen. Somit ist die Sprache nur ein weiteres unter vielen Instrumenten (wie Körpersprache, Verhalten, Handeln), um unser soziales Handeln zu organisieren. Kurz gesagt: Andere Tiere machen es eben einfach anders.
„Menschen neigen dazu, die Kraft ihrer Sprache zu überschätzen. Oft glauben wir, dass es die Sprache ist, die unser Leben strukturiert.“ schreibt Precht. Doch der größte Teil der Welt ist präverbal festgelegt, und wir müssen uns mit den Begebenheiten arrangieren und uns an die Umstände anpassen, wenn wir erfolgreich sein oder auch einfach nur überleben wollen. Selbst die Fähigkeit, Gutes zu tun, ist nichts spezifisch Menschliches. Somit wäre die von Immanuel Kant so favorisierte Moral keine exklusive Eigenschaft des Menschen.
Und wo wir gerade dabei sind: Der menschliche Wille steht seit einigen Jahren sehr unter dem Verdacht, eine Illusion zu sein, seitdem Hirnforscher abbilden konnten, was sich im Gehirn abspielt, wenn wir eine vermeintlich willentliche Handlung vollzogen. Und doch ist die Situation geradezu bizarr: „Während viele Hirnforscher die menschliche Vernunft in Affekte zerlegen (…), legen Philosophen noch immer den Kantischen Maßstab für die menschliche Wertegemeinschaft an: Intentionalität, Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung, Vernunft, Selbstreflexion.“
Dabei stimmen wir genetisch viel mehr mit unseren nächsten Verwandten überein, als uns lieb ist. Das Erbgut von Schimpansen und Menschen unterscheidet sich nur um 1,6 Prozent. Das ist weniger als der genetische Unterschied von Schimpansen und Gorillas…
Fazit: „Die heute so selbstverständlich gezogene Grenze zwischen Tier und Mensch ist nicht nur biologisch, sondern auch kulturell eine junge Entwicklung innerhalb der Gedankenwelt des Homo sapiens.“
Die christlich-abendliche Kultur vollendete dann nur noch jene Entwicklung, die durch die Entstehung zahlreicher Mythen im Mittelmeerraum angeschoben wurde: die moralische Rechtfertigung der menschlichen Herrschaft über die Natur.
„Je gewaltiger Menschen über die Natur zu herrschen vermögen, desto seelenloser erscheint ihnen das Beherrschte.“ Diese Erkenntnis verknüpft Precht mit der Jenseits-Logik des Christentums und seinen weitreichenden Folgen für den Umgang mit Tieren: „In den großen Weltreligionen wird die Welt jenseits der Erfahrung zum ‚eigentlichen‘ Leben, zum wahren Sein. Die Welt des Materiellen und Geschlechtlichen, die der Mensch mehr und mehr beherrscht, wird zur Vorstufe.“ Entsprechend sorglos kann man mit diesen irdischen Rohstoffen umgehen, Tiere einbezogen. Wer der Natur nach dieser Logik ihren „Zauber“ nimmt, sie von allem ablenkenden Tand befreit und für die eigene Vorbereitung auf ein jenseitiges Paradies für sich nutzt und ausbeutet, der handelt demnach im Einklang mit seiner Religion.
Der Schöpfungsbericht der Bibel entwertet jene magische Natur, die den Ägyptern noch als ein Mysterium galt, dessen Entwicklung sich über eine unendlich lange Zeit hingezogen haben mag, zu einer simplen und bedeutungslosen Bühne für den Auftritt von Gottes eigentlichem Ebenbild, dem Menschen.
Was für die Ägypter noch ein unendliches Werden und Vergehen war, schnurrt in der Genesis zusammen auf bloße fünf Tage Bauzeit. Diese verkürzte Bauzeit ist nicht nur ein Zeichen von Gottes Allmacht und Herrlichkeit, sondern auch ein deutliches Zeichen, diese Bebauung nicht allzu wichtig zu nehmen: „Macht euch die Erde untertan“, heißt hier: Bedient Euch aller Ressourcen und macht Euch ein schönes Leben. Auch die Tiere sind Euch zu Diensten: Nutzt sie, tötet sie, esst sie!
Auch im Judentum sieht es leider nicht besser aus für die Tiere: „Auch der Gott des Judentums verwendet nicht viel Liebe auf die Schöpfung, die er auf die Schnelle ins Leben rief. Eine Ausnahme macht nur der Mensch, genauer: der israelitische Mensch.“
Vielleicht ist ja das antike Griechenland in der Lage, ein anderes Bild zu liefern? Für die Pythagoreer (im 6. Jh. v. Chr.) war der Mensch noch nicht von der Tierwelt getrennt. Doch schon für Heraklit (ca. 520 – 460 v. Chr.) war der Mensch schon ein ganz besonderes Wesen. Aristoteles (ca. 460 – 371 v. Chr.) darf als Erster gelten, der versucht hat, die Tierwelt zu ordnen und so etwas wie Zoologie zu betreiben. Aristoteles begreift die Zoologie als eine Wissenschaft, und so macht seine nüchterne Betrachtung der Verhältnisse in der Wissenschaftsgeschichte Karriere. Precht konstatiert: „Ein wahrer Naturforscher ist nüchtern und rational, frei von moralischen Sentimentalitäten.“ Diese wissenschaftliche Kälte hat auch weitreichende Folgen für das Leiden der Tiere durch alle Zeitalter.
Auch die griechische Stoa plädiert für einen nüchternen und mitleidslosen Umgang mit der Natur. Diese Haltung wird später von Cicero und den Römern weiterentwickelt und führte schon früh zu einer schonungslosen Ausbeutung der natürlichen und tierischen Ressourcen. Dann kam das Christentum und mit ihm der endgültige Siegeszug der menschlichen Herrschaft über das Diesseits: Nutzung und Ausnutzung der Ressourcen wird hier zur Erfüllung eines göttlichen Auftrags.
„Lieben, Hassen und Essen bilden ihre unheilvolle Allianz schon seit über zweitausend Jahren. Weder Griechen noch Römern waren Tiere wirklich heilig, selbst wenn sie allerhand religiösen Firlefanz mit ihnen veranstalteten.“ Wie wir bereits gesehen haben, war und ist auch das Christentum nicht rücksichtsvoller. Die im Christentum fundamental angelegte Konzentration auf das Jenseits führt zu einem schwerwiegenden Perspektivwechsel: „Eine Religion, die das Reich ihres Gottes von dieser in eine andere Welt verlagert, verändert auch die Bedeutung des Todes.“
„Was ein wahrhaft wertvolles Leben ist, soll sich nun allein daran erkennen lassen, ob die Seele ins Jenseits aufsteigt. Und das religiöse Attentat auf das Leben wird jetzt auch zum Attentat auf das Tierleben: Tiere, weil sie nicht erlösungsfähig sind, verlieren ihr Existenzrecht.“ Man darf sie also züchten, misshandeln, schlachten und essen.
Franz von Assisi sprach mit den Tieren, aber die christlichen Kirchen können mit dem Viehzeug nicht viel anfangen. „Wozu Tierschutz, wenn die Schöpfung doch für den Menschen gemacht ist? Ebenso begreift der neue Katechismus der Kirche die Tiere als Diener des Menschen.“
Spätestens mit Calvin (1509 – 1564) räumen die Kirchen auf mit dem Schutz der Tiere und der Natur. Der calvinistische Protestantismus kennt keine Naturtheologie mehr. „Die Natur wird entzaubert und auf materiellen Stoff reduziert. Was uns auf Erden umgibt, ist nur die wertlose Vorstufe zum Jenseits.“ Wo wir sie tüchtig ausbeuten und Wohlstand anhäufen, zeigt Gott an und sein Wohlgefallen. Prost, Mahlzeit!
Precht fasst zusammen: „Platon, Aristoteles, Cicero, Augustinus, Thomas von Aquin, Descartes, Spinoza, Pascal, Locke, Leibniz, Kant und Hegel – allesamt schaufelten sie an dem großen Graben zwischen Mensch und Tier. Des Menschen Vernunft und sein Verstand, seine Denk- und Urteilsfähigkeit bildeten den Maßstab.“ Und so leben wir bis heute in einer überwiegend cartesianischen Welt: „Die Praxis der industriellen Tierverwertung ist taub für das Leiden der Tiere, blind für die Angst in den Augen des seelenlosen ‚Nutzviehs‘.“ Und doch kam der Gedanke des Tierschutzes aus den Reihen der protestantischen Sekten.
Für Quäker und Puritaner ist das Jenseits der Ort der Erlösung von einem freudlosen und kargen Leben in der Welt. Die Erbsünde war auf alle Lebewesen gekommen. Der Mensch konnte sich durch Fron und strenge Gläubigkeit von dieser Last befreien, doch was war mit den Tieren? Wenn sich die Tiere nicht selbst aus dem Sündental befreien können, so könnte der Mensch ihnen doch zumindest versuchen, das irdische Leide zu lindern, indem er darauf verzichtet, die Tiere unnötig zu quälen… So entstand aus dem Pietismus die Idee zum Tierschutz.
Der Utilitarist Jeremy Bentham fragte im 18. Jahrhundert nach dem Sinn der Moral. Besteht sie nicht darin, das Glück aller leidensfähigen Lebewesen zu mehren und ihr Leiden möglichst gering zu halten? Wer davon überzeugt ist, geht mit Tieren anders um, als wenn er das Tier lediglich als eine natürliche Ressource betrachtet, mit der man nach Belieben umgehen kann.
In ähnlicher Weise argumentierte der dänische Philosoph Lauritz Smith (1754 – 1794), der heute nahezu vergessen ist: Er ist einer der Ersten, die den Begriff der Würde auf das Tier anwenden und auch den Tieren Rechte zugestehen. Doch zur selben Zeit lehrt im fernen Königsberg ein anderer Philosoph, der weitaus einflussreicher werden sollte. Die Rede ist natürlich von Immanuel Kant, für den die Würde allein dem Menschen zukommt. Immerhin war auch Kant ein Gegner der Tierquälerei, jedoch nicht zum Wohle der Tiere, sondern des Menschen, der, indem er auf das Quälen verzichtet, seine Selbstachtung bewahren kann.
1838 ist es dann endlich so weit: Der erste deutsche Tierschutzverein wird gegründet; in England war man schon etwas früher dran, hier wurde bereits 1822 ein Gesetz verabschiedet, das übertrieben Grausamkeit gegenüber Tieren unter Strafe stellt, und 1825 wurde die Society for the Prevention of Cruelty to Animals (SPCA) gegründet.
Doch eine breitere soziale Bewegung wurde die Tierrechtsbewegung in Deutschland, den USA und in England erst in den 1980er Jahren. Und erst 2002 wurde der Tierschutz (zusätzlich zum Tierschutzgesetz) auch im deutschen Grundgesetz als Staatsziel verankert.
Wer nun glaubt, dass seitdem alles gut wurde, irrt sich gewaltig. Während gerade die ersten Tierschutzgesetze das Quälen verbieten, entstehen schon die ersten Fabriken zur industriellen Tötung von Nutztieren. Der Fleischverzehr, einst ein seltener Genuss der Bauern, wurde für immer breitere Schichten der Bevölkerung zur Selbstverständlichkeit. Die Umstellung der Nahrung von vegetarischer Kost auf den immer häufigeren Verzehr von Fleisch erforderte die Massentierhaltung und die industrielle Verwertung von Tieren.
Albert Schweitzer formulierte 1915 einen denkwürdigen Satz: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das Leben will.“ Schweitzer erkannte, dass die menschliche Ethik unvollkommen war aus dem einfachen Grund, weil sie sich allein auf den Menschen konzentrierte und nicht die gesamte Schöpfung miteinbezog. Doch wie sollte das funktionieren?
Mit Schopenhauer und Nietzsche fand Schweitzer die Grundlage der Moral im „Willen zum Leben“. Jedes Lebewesen hat grundsätzlich einen Anspruch auf Lebensglück, auch die Tiere. Schweitzers Lösung des Problems, dass nicht alle Tiere ihre Handlungen frei entscheiden können, sondern überwiegend von etwas bestimmt werden, was wir „Instinkt“ nennen, ist stark von Kant beeinflusst: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, dass sein Handeln frei bestimmen kann. Je größer jedoch die Handlungsfreiheit eines Lebewesens ist. Desto größer ist auch seine Verantwortung. Oder anders gesagt, ist das Glück der Tiere ‚natürlich‘, das Glück des Menschen hingegen ‚eine Folge seiner guten Taten‘. Es ist demnach die Aufgabe des moralisch handelnden Menschen, das Leid der Tiere zu vermeiden und sein Glück zu mehren…
Der australische Philosoph Peter Singer orientiert sich in seiner „Praktischen Ethik“ (1979) an dem Utilitarismus – und hier besonders an Jeremy Bentham. Für ihn gibt es drei Prinzipien der Moral: die Gleichheit, die Glücksfähigkeit und die Nützlichkeit. Singers „Präferenz-Utilitarismus“ besagt, dass auch manche Tiere gewisse „Vorlieben“ (Präferenzen) haben, etwas zu tun oder nicht zu tun, und auf diese Weise haben Tiere einen höheren moralischen Status als Lebewesen ohne bewusste Absichten.
So nett und plausibel dies klingt, so problematisch ist es in der praktischen Umsetzung: Nach Singer hätte nämlich ein Hund durchaus einen höheren moralischen Status als zum Beispiel ein Neugeborenes oder ein Schwerstbehinderter. Wenn es also darum ginge, die Lebewesen aus einem brennenden Haus zu retten, so müsste man nach Singer zunächst den kleinen Hund retten, bevor man das Neugeborene oder den geistig Behinderten rettet (oder auch nicht, weil das Haus einzustürzen droht). Umgekehrt wäre es nach Singers Ethik auch richtiger, einen Schwertbehinderten schmerzlos zu töten als ein erwachsenes Schwein.
Precht kritisiert zurecht diese wenig charmante und für die meisten Menschen sicherlich nur schwer nachvollziehbare Ethik von Peter Singer und versucht in seinem Buch, eine neue Tierethik zu entfalten, die sich einerseits theoretisch argumentieren und andererseits auch praktizieren lässt.
Wie Precht, so grenzt sich auch der amerikanische Philosoph Tom Regan deutlich von Singers Ethik ab. In seinem tierphilosophischen Werk „The Case for Animal Rights“ (1983) spricht er Tieren einen inhärenten Wert zu: Jedes Tier sei ein „subject-of-a-life), also das Subjekt-eines-Lebens, und somit wertvoll und schützenswert.
Precht weist an dieser Stelle auf einen wichtigen Punkt hin: Es gilt, die Begrifflichkeiten genau voneinander zu unterscheiden und sich zu fragen, ob es in Bezug auf die Tiere um ihren Schutz oder um ihre Rechte geht. Tierschutzvereine haben eine sehr große Klientel; der Deutsche Tierschutzbund versammelt als Dachverband eine halbe Million Mitglieder in über siebenhundert Vereinen.
Doch Tierschützer sind noch lange keine Tierrechtler: Sie kritisieren zwar die Folgen, aber nur selten die Ursachen der rücksichtslosen Ausbeutung von Tieren. Tierrechtler sind da radikaler und verstehen bereits die Ursachen jener Ausbeutung als Problem und als Verletzung fundamentaler Rechte von Tieren.
Der Graben, der zwischen Tierschützern und Tierrechtlern geht, wird markiert durch die Kritik an den gesellschaftlichen Werten des kapitalistisch-liberalen Systems: Wer die Ausbeutung der Ressource Tier grundsätzlich ablehnt und die rein ökonomische Motivation der Massentierhaltung brandmarkt, geht den konventionellen Tierschützern oft zu weit. Wer Tierrechte einfordert, ist radikaler und kompromissloser.
„Nahezu alle Tierrechtsphilosophen und ihre Anhänger scheinen der Ansicht zu sein, dass es bei der menschlichen Moral um „Gerechtigkeit“ ginge und dass man die Menschen nur überzeugen müsse, dass ihr Verhalten gegenüber Tieren ungerecht sei.“
Die mit der Rechtsfrage verbundene Anwendung des Vernunftbegriffs (der sich am Menschen orientiert und somit anthropologisch ist) macht tierphilosophisch keinen Sinn. Precht möchte dagegen vorschlagen, die Vernunft anthrozoologisch zu betrachten und damit als eine Fähigkeit des Menschentieres unter anderen Tieren. In jedem Fall gibt jedoch nicht die Vernunft dem Menschen die Spielregeln des Denkens vor, sondern (genau andersrum) entscheiden die biologischen und psychologischen Spielregeln des Denkens über die Vernunft.
Langsam sollte klargeworden sein: „Es gibt kein Kriterium, dass alle Menschen von allen Tieren unterscheidet. Trotzdem trennen wir Menschen moralisch von Tieren.“ Eine neue Ordnung einer Solidargemeinschaft von Menschen und höheren Tieren würde am Sockel der abendländisch-humanistischen Moral rütteln, doch genau eine solche Solidargemeinschaft brauchen wir, wenn wir die Artenvielfalt auf unserem Planeten erhalten und die Natur für zukünftige Generationen bewahren wollen.
Unsere Moralvorstellungen lassen sich nicht 1:1 auf die Tierwelt anwenden, das machte auch gar keinen Sinn. Wir kommen der Lösung des Problems näher, wenn wir uns klarmachen, wie und warum Moral entsteht: „Lebewesen, die Absichten haben und Absichten bei anderen erkennen und danach handeln, brauchen eine Art Verhaltenskodex.“ Nichts Anderes ist die Moral: die Verhaltensregeln, die sozial komplex agierende Lebewesen sich geben, um miteinander klarzukommen.
Viele Menschen glauben, dass hierbei die Gesinnung eine wichtige Funktion erfüllt. Doch die meisten von uns passen ihr Verhalten viel flexibler an die Bedingungen an, als es für eine (eher statische) Gesinnung praktikabel wäre. Mit anderen Worten: Wir handeln nach flexiblen Grundsätzen.
Precht findet, eine praktikable Tierethik „sollte deshalb nicht in erster Linie auf Gerechtigkeit, Freiheit oder andere Werte setzen. Sondern sie sollte überlegen, welche Rolle Tiere innerhalb des Miteinander-Klarkommens realistisch spielen könnten.“ Mit anderen Worten geht es ihm um einen ethischen Fortschritt. Dieser kann nur gelingen, wenn wir unseren bisherigen anthropozentrischen Standpunkt verlassen und uns als Menschen zu einem Teil eines größeren, anthrozoologischen Zusammenhangs machen.
So sieht beispielsweise auch der amerikanische Philosoph Richard Rorty eine Chance für moralischen Fortschritt, wenn es gelingt, die Reichweite des Mitgefühls zu vergrößern. Wissen kann hier gute Dienste leisten. „Wer viel über Kraken weiß, der wird zweimal darüber nachdenken, ob er meint, einen Oktopus essen zu müssen“, meint Precht. Denn noch immer gibt es wahrscheinlich viel mehr, was wir über diese faszinierenden Tiere nicht wissen, als das, was wir zu wissen glauben.
Der Autor fordert deshalb: „Wir sollten anerkennen, dass wir nicht mit letzter Sicherheit über das Innenleben von Tieren, ihre Sensibilität, Leidensfähigkeit und ihr Bewusstsein urteilen können.“ Richard David Precht hatte folgerichtig bereits 1997 in seinem Buch „Noahs Erbe“ für eine Ethik des Nichtwissens plädiert. Durch vorsichtige Analogieschlüsse vermutete Interessen zu respektieren: Dies ist nach Precht der geeignete Weg, sich der Welt der Tiere anzunähern — in etwa, wie man sich in einen Säugling und in seine Welt hinzuversetzen versucht.
Es geht nicht darum, ob Tiere so empfinden wie wir. Entscheidend ist, dass sie überhaupt Empfindungen haben! Ein weiteres Problem liegt jedoch in der Sichtbarkeit tierischen Leidens. Wenn ich einen Hund mit einem gebrochenen Hinterlauf sehe, ist der Fall klar: Ich sehe sein Leid und versuche ihm zu helfen. Das millionenfache Leid in den Massentierhaltungen sehe ich jedoch nicht, und schon wird dieses Leid abstrakt und uneigentlich. An diesem Punkt muss eine neue Tierethik ansetzen und das Leiden der Tiere stärker in den Fokus rücken. Nur so können sich die Verhältnisse grundlegend und dauerhaft ändern. Was wir mit den Tieren im Verborgenen treiben, muss ans Licht der Öffentlichkeit.
Gleichwohl, meint der Autor, wird es entscheidend für den Erfolg einer neuen Tierethik sein, „die Entscheidungsspielräume der Praxis ein ganzes Stück weit offen zu lassen, statt sie durch gleiche Rechte für Tiere zum Teil absurd zu verengen.“ Gefragt ist demnach ein pragmatischer und flexibler Umgang mit den Tierrechten, gepaart mit einem prinzipiellen Schutzanspruch der Tiere vor der Versachlichung durch den Menschen.
Im vierten und letzten Abschnitt seines Buches geht Precht auf verschiedene Felder der Mensch-Tier-Beziehungen ein: der tägliche Umgang mit Tieren, die Massentierhaltung, Tierversuche, zoologische Gärten und den Artenschutz.
Je bedrohter die Refugien der letzten Wildtiere werden, desto präsenter sind sie in unserer Wahrnehmung. Der dokumentarische Tierfilm bringt auch noch die exotischsten Tiere in unser Wohnzimmer; noch nie war das Wildtier uns so nah wie heute.
Tiere faszinieren uns, weil sie einerseits so fremd (und im Wahrsten Sinne fremdartig) erscheinen, doch zugleich entdecken wir an ihrem Verhalten Ähnlichkeiten, die sie uns nahebringen. Dieses Wechselbad der Gefühle macht, gepaart mit der ästhetischen Empfindung der Schönheit der Natur, die Faszination aus und lässt die mensch-Tier-beziehung zu etwas ganz Besonderem werden.
Das ist die eine Seite. Die andere Seite liegt als Schnitzel auf unserem Teller oder als Schinken auf unserem Brot. „Das Leiden perfekt auszugrenzen und zu verbergen, scheint gegenwärtig die letzte Möglichkeit zu sein, das Chaos im Umgang mit Tieren weiter aufrechtzuerhalten.“
Dieser blinde Fleck hat Methode und findet sich in seiner Scheinheiligkeit sogar im Tierschutzgesetz verewigt. Seit 1986 schmückt sich das deutsche Tierschutzgesetz mit dem Begriff der Mitgeschöpflichkeit, einem Pietisten-Wort aus dem späten 18. Jahrhundert. Im Gesetz heißt es weiter: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ Das klingt nett, ist aber juristisch derart biegsam formuliert, dass der Tierschutz durch dieses Gesetz mehr oder weniger unwirksam bleibt. Denn „vernünftige Gründe“ gibt es schließlich immer, allen voran ökonomische Gründe.
Die anheimelnde Rede vom Mitgeschöpf kaschiert letztlich nur, dass wir es hier nicht mit einem Schutzgesetz zu tun haben, sondern mit einem knallhart formulierten Nutzungsgesetz. Precht kommentiert zynisch: „Vermutlich gibt es kein zweites Gesetz in Deutschland, dessen juristische Poesie so sehr von der Prosa der Verhältnisse karikiert wird wie das Tierschutzgesetz.“
Doch selbst wenn man wollte, kann man in Deutschland heute keinen Alleingang mehr vollziehen. Die EU besteht auf einer einheitlichen und für alle Mitgliedländer verbindlichen Tierschutz-Richtlinie mit entsprechend tiefliegenden Standards. Trotzdem ginge es auch anders.
Eine weitere Schwierigkeit bei der Durchsetzung von Tierrechten sieht Precht in der Vertretung der tierischen Interessen: Noch lange nicht Tierschutzverbände als Treuhänder und Kläger der Tiere in einem Rechtsstreit mit der Pharmaindustrie oder den Tierverwertungs-Konzernen auftreten. Eine Justiz, die Tiere nicht als Rechtssubjekte, sondern als Rechtsobjekte ansieht, verhindert de facto die Einklagbarkeit der Rechtsansprüche von Tieren. Dagegen wenden sich Juristen wie Johannes Caspar, der für eine „abgestufte Rechtsgleichheit“ plädiert.
Caspar sieht ein grundsätzliches Anspruchsrecht der Tiere darauf, dass die vom Gesetzgeber formulierten Schutzansprüche auch gewährleistet werden. Sollte diese Sicht der Dinge allgemeiner Konsens werden, könnten Tierschutz-Organisationen auch im eigenen Namen die Rechte der Tiere einklagen. Maßstab wäre hierbei dann nicht mehr das vermeintlich „öffentliche Interesse“ (d. h. die ökonomischen Interessen der Industrie), sondern das Eigeninteresse der betroffenen Tiere.
Doch wie steht es mit der Jagd? Dient sie der Art- und Bestandserhaltung (also der „Wildpflege“), wie oft argumentiert wird, oder ist sie einfach ein Sport mit tödlichen Folgen? Eindeutig Stellung bezogen hat der ehemalige Bundespräsident Theodor Heuss: „Jagd ist nur eine feige Umschreibung für besonders feigen Mord am chancenlosen Mitgeschöpf. Die Jagd ist eine Nebenform menschlicher Geisteskrankheit.“ Auch Richard David Precht lehnt selbstverständlich die Jagd ab und meint treffend, dass Menschen, die regelmäßig töten müssen um glücklich zu sein, eigentlich professionelle Hilfe bräuchten.
Doch anderes Thema: Wie sieht es mit dem Fleischkonsum aus? — Schweine sind intelligent. Untersuchungen haben gezeigt, dass erwachsene Schweine in etwa die kognitiven Leistungen von dreijährigen Kindern erreichen. Würden Sie gerne das zarte Fleisch dreijähriger Kinder essen? Raffiniert zubereitet und schmackhaft gewürzt? Nein, dieser Vergleich ist nicht geschmacklos, sondern belegt nur, wie gut wir alle im Ausblenden der Tatsachen sind. Es gibt nicht einmal einen biologischen Grund, Fleisch zu essen. „Ein zwingender medizinischer Grund, Fleisch zu essen, besteht nicht.“
Die Fleischesser-Fraktion versucht ihren Fleischhunger immer wieder mit dem Erbe unserer prähistorischen Vorfahren zu legitimieren; eine rein vegetarische Kost hingegen würde uns um vier Millionen Jahre auf die Entwicklungsstufe der Australopithecinen zurückwerfen. Vergessen (oder ausgeblendet) wird hierbei von den Fleisch-Anhängern, dass es den heutigen Vegetariern, neben allen gesundheitlichen Aspekten einer fleischlosen Ernährung, auch um einen ethischen Fortschritt geht, der sich über das Töten von Tieren zum Zweck des Verzehrs erhebt und eben dieses überkommene Nutzungsverhalten durch eine neue tierethische Praxis des Miteinander-Klarkommens ersetzt.
Hühner, Rinder, Schweine müssen immer noch in fabrikmäßigen Massentierhaltungen vor sich hinvegetieren, ein leidvolles „Leben“ bis zur Schlachtung führen. Die jährlichen Zahlen sind unvorstellbar: allein 45 Millionen „Mastgeflügel“ und 25 Millionen Schweine. Neben dem Leid der Tiere hat auch die Ausbeutung der Natur zur Futtermittelerzeugung eine schwer vorstellbare Dimension. Dabei werden fast 90 Prozent aller Futtermittel aus Sojaschrot produziert, importiert aus Brasilien, Argentinien und Paraguay — natürlich „gentechnisch manipuliert und angebaut mit katastrophalen ökologischen Folgen“. Guten Appetit!
Die Landwirtschaft erwirtschaftet zwar nur etwa ein Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes, und beschäftigt nur etwa 1,5 Prozent der deutschen Arbeitsplätze. Trotzdem werden durch massive Subventionen Wirtschaftsbereiche am Leben erhalten, die für die Ausbeutung der Natur und das millionenfache Leid von Tieren verantwortlich zeichnen. Precht resümiert kühl: „All dies muss man wollen, und Deutschland will es.“
Doch es gibt auch ganz neue Entwicklungen, die Hoffnungen machen: „Cultured Meat“ heißt das Zauberwort, und es wurde zuerst 2013 vom niederländischen Physiologen Mark Post der Öffentlichkeit präsentiert. Es war ein Stück Hackfleisch, das so aussah wie Hackfleisch und so schmeckte wie Hackfleisch, und das eben doch kein Fleisch war. Es handelte sich um ein „In-Vitro-Fleisch“, das aus der Nackenmuskel-Stammzelle einer Kuh gezüchtet worden war; kein Tier musste für diese Bulette sterben!
Der weltweite Fleischverbrauch beträgt zurzeit 283 Millionen Tonnen. Gleichzeitig erzeugt allein die extensive Viehhaltung immer noch deutlich mehr Umweltgifte und Schadstoffbelastungen als alle anderen Schadstoffquellen wie Industrie und Verkehr der Welt zusammen! Wenn es gelänge, den weltweiten Fleischkonsum nach und nach auf „Cultured Meat“ (Kulturfleisch) umzustellen, hätten wir nicht nur den Tieren geholfen, sondern auf einen Schlag auch noch die Umweltbelastungen deutlich verringert. Denn „Cultured Meat“ kommt gänzlich ohne Ammoniakbelastung, Nitratverseuchung und Millionen Tonnen von Herbiziden bei der Futtermittelproduktion aus.
Wer sich übrigens vor dem künstlich hergestellten Fleisch gruselt, sollte sich die Frage stellen, wo eigentlich sein Problem liegt: Finden wir in unseren Supermärkten nicht überall künstlich veränderte Lebensmittel, vom Brot bis zum Bier? Wer wirklich auf seine Gesundheit achtet, sollte auch jetzt schon kein Fleisch mehr essen, das oftmals mit Wachstumshormonen und Antibiotika von gentechnisch manipulieren Schweinen und Rindern erzeugt wird. Von Schweinepest, BSE und Hühnergrippe ganz zu schweigen.
Massenhaft produziertes Kulturfleisch ist im Moment noch Zukunftsmusik, und doch gibt es keinen vernünftigen Grund, den ganzen Wahnsinn der Massentierhaltung weiter zu unterstützen. Schon heute kann man sich gegen das Fleischessen entscheiden, ohne körperliche Mangelerscheinungen fürchten zu müssen. Millionen von Vegetariern und Veganern in aller Welt zeigen, dass es geht.
Ein weiteres problematisches Feld der Mensch-Tier-Beziehung sind Tierversuche. Man wird im Sinne der Forschung wohl nicht völlig auf sie verzichten können, aber es gäbe auch hier viel zu tun. Die Anti-Tierversuchs-Bewegung spricht vom 3R-Prinzip oder RRR (für Reduce, Refine, Replace): weniger Versuche, verfeinerte Versuche und die Ersetzung von Tierversuchen durch andere Testverfahren.
Beklagenswert sind in diesem Zusammenhang vor allem die unzähligen und völlig redundanten Wiederholungsversuche, die jedes Jahr viele Hunderttausend Tiere qualvoll leiden und sterben lassen, obwohl man dieselben Tests schon längst durch Tierversuche durchgeführt hat! Es existiert nicht einmal eine elektronische Datenbank zur Erfassung aller Tierversuche, durch die ganz leicht eine solch unnötige Wiederholung vermieden werden könnte.
Eine grundsätzliche Problematik bleibt auch heute noch die Frage nach der Übertragbarkeit der Untersuchungsergebnisse auf den Menschen. Tierischer und menschlicher Organismus unterscheiden sich mehr oder weniger. Ganz zu schweigen von den Tierversuchen für banale Produkte wie Kosmetika oder Schnupfensprays. Precht schreibt bitter: „Die Anzahl der Menschen, die an Schnupfen sterben, ist überschaubar; diejenige der Versuchstiere, die für die Entwicklung von Schnupfensprays sterben müssen, nicht.“ Angesichts dieser Banalität der tierischen Qualen stellt sich die interessante Frage, ob wir in der Apotheke wirklich meinen, zwischen 10 oder 20 verschiedenen Schnupfensprays wählen zu müssen?
Die eigentliche moralische Katastrophe sieht Precht darin, „dass wir fast jedes wirtschaftliche Interesse und jede wissenschaftliche Neugier im Zweifelsfall als wichtigere Werte erachten als das Wohl von Tieren. Bei einer klaren Zielbestimmung der Vivisektion im Sinne des Tierschutzgesetzes hingegen wären mehr als 90 Prozent aller Tierversuche in Deutschland unzulässig.“ Ein Schelm ist, wer in diesem Zusammenhang an Lobbyismus denkt.
Anstatt Tierversuche pauschal zu erlauben (und nur in Einzelfällen zu verbieten), wie es de facto in Deutschland praktiziert wird, sollte man Tierversuche pauschal verbieten und nur in Einzelfällen, nach einer ausgiebigen und an den Interessen aller Beteiligten (auch der Tiere) ausgerichteten Bewertung zulassen.
Am Ende seines Buches stellt der Autor die Frage, ob es sich bei Zoos und Tierparks um Naturschutz-Zentren handelt oder um Orte eines „pathologischen Ungeistes“? Ist ein Zoo eigentlich noch zeitgemäß? Darf man Tiere in Gefangenschaft halten? Precht konstatiert für die zoologischen Gärten in den letzten Jahren einen unheimlichen Trend: Immer mehr Zoos werden nicht mehr von Zoologen geführt, sondern ähneln eher dem Geschäftsmodell von Freizeitparks. Das liegt oft an den Führungspersönlichkeiten, die eher aus der Wirtschaft kommen als aus dem Umfeld der Zoologie. Entsprechend werden die Zoos umgebaut mit Wasserrutsche und Spielplatz zu Freizeitparks einer globalen Eventkultur. Die Zootiere sind dann nur noch das zoologische Beiwerk einer Bespaßungs- und Freizeitindustrie für die ganze Familie. Der eigentliche zoologische Auftrag bleibt dabei auf der Strecke.
Carl Hagenbecks Hamburger Zoo und der Tierpark Berlin sind zwei Beispiele eines anderen Ansatzes. In großzügigen Freianlagen sollte das „Tierleben“ gezeigt werden und nicht einzelne Tiere. Beide Parks liefern die Grundlage für tierische „Psychotope“, in denen die Tiere, wenn auch in beschränkten räumlichen Verhältnissen und unter Aufsicht der Pfleger, ein verhältnismäßig natürliches Leben führen können.
Doch was sind die ethischen Aspekte der Haltung von Zootieren? Zwei verschiedene Aspekte treffen für den Autor hier zusammen. Das Eine ist das Recht jedes einzelnen Tieres auf individuelle Entfaltung. Das Andere ist das ästhetische Interesse des Menschen am Fortbestand von Arten. Wobei das ästhetische Interesse durchaus auch von vitalen Interessen des Erhalts eines einigermaßen intakten Ökosystems begleitet sein sollte… Für Precht ist die Aufgabe zukünftiger Zoos klar: Sie sollen bei ihren Besuchern die anthrozoologische Sensibilität fördern und auf diese Weise eine Trendwende auslösen im Umgang mit den Tieren.
Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie weit man den Radius der schützenswerten Lebewesen zieht. Der englische Chemiker und Biophysiker James Lovelock fordert, grundsätzlich alles zu schützen, was lebt. Lovelock zählt nicht nur Pflanzen und Tiere zum Leben dazu, sondern ebenso vermeintlich tote Stoffe wie das Erdöl, den Humus, die Kalkfelsen und den Sauerstoff. Man muss diesen „ökologischen Pantheismus“ nicht teilen, aber dieses Beispiel macht sehr deutlich, wie variabel und diskursabhängig die Grenzziehungen zwischen lebender und toter Materie sein können.
Das Bewusstsein der Notwendigkeit eines Schutzes von Natur und Tierwelt ist heute größer und weitverbreiteter denn je. Überall wird die Ursprünglichkeit und Schönheit der Natur gepriesen: die Waldesruh, die raue Wildheit der See, der Zauber der biologischen Vielfalt. „Was in den Tagen der Romantik Sache einzelner Dichter, Maler und Denker war, Ergüsse in Poesie, Literatur und bildender Kunst, übernehmen heute Profis der Werbe- und Freizeitindustrie.“
Gleichzeitig war aber auch die Entfremdung des Menschen von seiner natürlichen Umwelt zu keiner Zeit größer als heute. Die Ausbeutung der Rohstoffe, die Produktion von Nahrung und die industrialisierte Ausbeutung der Natur bleiben für die meisten Menschen unsichtbar, und die heile Welt einer intakten Natur wird zum Freizeiterlebnis am Wochenende.
Während engagierte Menschen nach Lösungen suchen, die Schöpfung auch für kommende Generationen zu bewahren, sind die Kräfte des Marktes in vollem Gang, die Ressourcen der Erde auszubeuten und Tiere millionenfach für den eigenen Profit mitleidslos zu quälen und zu töten. „Machtinteressen, Systemzwänge, Lobbys, Konventionen, Ignoranz und Starrsinn“ sind für Precht jene Schwierigkeiten, auf die Menschen stoßen, die eine Umkehr fordern und einen sensibleren Umgang mit unseren „Mitgeschöpfen“, den Tieren, fordern.
Das Tierschutzgesetz ist mittlerweile über 30 Jahre alt, und über ihm thront der feierliche Satz: „Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen.“ Die Prosa der alltäglichen Missachtung der basalen mitgeschöpflichen Interessen entlarvt diesen hehren Anspruch als bloße Heuchelei.
Für die Überwachung der Einhaltung des Gesetzes zeichnet bezeichnenderweise der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten verantwortlich: ein Ministerium im harten Griff der Lobbyisten aus der Agrarindustrie. Wäre hierfür im Sinne der Tiere und der Umwelt nicht das Umweltministerium eine bessere Adresse?
Man wird das Gefühl nicht mehr los, dass das Ganze Methode hat: Ja, wir haben ein Tierschutzgesetz, aber seine Auflagen sind nicht verbindlich. Ja, wir sind für das Wohl der Tiere verantwortlich, stellen jedoch das Wohl unserer Agrarwirtschaft über das Wohl dieser Lebewesen. Ja, wir schützen das Leben der Labortiere, aber wenn ein Schnupfenspray seine Marktreife anstrebt, ist das ein „vernünftiger Grund“ im Sinne des Gesetzes, um hier Tiere zu quälen und Tierversuche zu genehmigen, die schon tausendfach mit demselben Ergebnis durchgeführt wurden.
Precht fordert in seinem Buch auf, endlich den Wandel zu vollziehen von einer „anthropozentrischen Verständigungsgemeinschaft in eine anthrozoologische Verständnisgemeinschaft“. Wir müssen den entscheidenden Schritt hin zu einer Kultur des Abwägens gehen und die Tierethik des Nichtwissens in eine Pragmatik des Nichtwissens überführen, die bereit ist, mit den selbstverständlich auftauchenden Konflikten und Widersprüchen kreativ umzugehen.
„Man kann nicht allen Menschen in Deutschland vorschreiben, Vegetarier zu werden“, meint der Autor, auch wenn dies in Anbetracht der Massentierhaltung wünschenswert wäre. Und man wird auch in Zukunft Tierversuche in Einzelfällen zulassen müssen, wo lebenswichtige Bedürfnisse von Menschen betroffen sind. Jedoch entscheidend ist die Steigerung der Sensibilität im Umgang mit Tieren sowie die grundsätzliche Verpflichtung, durch vorsichtige Analogieschlüsse die vermuteten Interessen der Tiere zu respektieren.
Nur auf diese Weise werden wir Tiere in Zukunft gerechter behandeln und gleichzeitig unsere eigenen Grenzen im Umgang mit unseren Mitgeschöpfen akzeptieren lernen. Bis dahin gibt es eine Menge zu tun: Verbot von Pelztierfarmen, Abschaffung der Jagd, striktes Verbot der landwirtschaftlichen Intensivhaltung, Belegung von konventionellem Fleischprodukten mit Strafzöllen, Subventionierung und Entwicklung von Kulturfleisch, Schutz von Nutztieren, strengere Kontrolle von Tierversuchen usw. usf. All diese Aufgaben müssen flankiert werden von Maßnahmen der Aufklärung und Ernährungsberatung, mit dem Ziel einer Überwindung des anthropozentrischen Blickes zugunsten einer anthrozoologischen Perspektive.
So fasst auch Richard David Precht in seinem Schlusskapitel zusammen: „Eine leidfreie Welt ist undenkbar; der Mensch kann nicht existieren, ohne anderem Leben Gewalt anzutun. Aber immerhin lässt ein anthrozoologisches Bewusstsein die Handlungsspielräume fragwürdiger und veränderbarer erscheinen, als sie es in der starren Grenzziehung der christlich-abendländischen Kulturgeschichte waren.“ Dass die Reise in diese Richtung geht, bleibt zu hoffen. Dieses Buch kann hierzu einen wichtigen Beitrag zu einem ersten Umdenken leisten.
Wir haben mit Richard David Precht persönlich über sein neues Buch, über Tierethik und andere gesellschaftliche Fragen gesprochen. Lesen Sie hier das Interview auf der Frankfurter Buchmesse 2016 in voller Länge.
Autor: Richard David Precht
Titel: „Tiere denken — Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen“
Gebundene Ausgabe: 512 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag
ISBN-10: 3442314410
ISBN-13: 978-3442314416
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