Konrad Ott: „Zuwanderung und Moral“
Am: | März 29, 2016
Seit über einem Jahr sind wir in Deutschland von akuter Zuwanderung bedroht. Bis in die kleinsten Ortschaften des Landes, ja selbst im hinterwinkligsten Thüringen, stehen die Zeichen auf Veränderung; selbst auf dem plattdeutschen Land besteht die potenzielle Gefahr kultureller Bereicherung durch Migranten und Flüchtlinge.
Doch wie soll sich der Durchschnittsdeutsche zu diesem realen Phänomen der radikalen Veränderung seiner Lebensumstände verhalten? Soll er es befürworten oder fürchten? Soll er protestieren oder applaudieren? Sich der Willkommens- oder der Hass-Kultur anschließen?
Ein kleines tapferes Reclam-Bändchen ist nun angetreten, die Ordnung in unseren verwirrten Köpfen wiederherzustellen. Nicht nur die Medien, sondern auch die Diskussionen am Stammtisch und am heimischen Frühstückstisch sind gespickt mit Vorurteilen, mit falsch verwendeten Begriffen und völlig überzogenen Erwartungen. Das beginnt schon bei der Frage, mit wem man es eigentlich zu tun hat:
Sind die Menschen, die in unser Land kommen, nin Flüchtlinge oder Migranten? Das kommt darauf an. Meint Konrad Ott, der dieses kleine Reclam-Bändchen verfasst hat. Ein Flüchtling ist akut von politischer Verfolgung bedroht; er muss um sein Leben bangen und genießt insofern den internationalen Schutz der Genfer Konvention. Mit anderen Worten gibt es in diesen Fällen überhaupt keinen Diskussionsspielraum: Flüchtlinge besitzen ein Anrecht auf Schutz. Die Gemeinschaft ist verpflichtet, diesen Menschen zu helfen, Punkt.
Im Fall der Migration sieht es etwas anders aus, denn hier wird der Migrierende nicht verfolgt, sondern er erhofft sich durch seine Migration, seine Lebenssituation und die seiner Angehörigen nachhaltig zu verbessern. Dennoch dürfen wir uns Migranten gegenüber anders verhalten als gegenüber Kriegsflüchtlingen; während diese ein uneingeschränktes Recht auf Asyl genießen, steht es jedem Land frei zu entscheiden, ob, in welchem Maße und unter welchen Voraussetzungen man Immigration zulassen möchte. Deutschland täte gut daran, sich endlich als Einwanderungsland zu definieren, denn die Zeugungskraft und -willigkeit der Deutschen scheint auf Dauer nicht mehr hinten hoch zu kommen. Das Ergebnis ist nicht nur ein Fachkräftemangel, sondern auch eine rückläufige Zahl an Menschen, die in die Rentenkassen einzahlen.
Das Leben wäre schön und einfach, wenn sich alles so übersichtlich in klar voneinander abgegrenzte Kästchen packen ließe, doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Die idealtypische Unterteilung in Flüchtlinge und Migranten versagt im Realitäts-Check. Die Mischform ist die Regel, und so wird am Ende immer nur die Einzelfallprüfung Klarheit bringen.
Wo wir gerade bei Idealtypen sind: Gleich zu Beginn greift Ott auf Max Weber zurück, der mit seiner idealtypischen Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik die zwei Grundzüge einer moralischen Perspektive aufzeigt. Diese Unterscheidung ist idealtypisch, weil sie in reiner Form so gut wie niemals zu finden ist; meistens sind die Positionen vermischt und überschneiden sich.
Doch die Unterscheidung ist hilfreich, um ein wenig mehr Licht auf die hitzigen Diskussionen unserer Zeit zu werfen. Letztlich dient das Buch aber auch dazu, die eigenen Positionen einzuordnen und sie zu überdenken.
Konrad Ott ist Philosoph und Ethiker. An der Universität Greifswald ist er in seinem Schwerpunktfach Umweltethik tätig, aber der aktuelle Zustrom von Flüchtlingen und Migranten hat auch ihn stark beschäftigt. So hat er dieses kleine Büchlein über das Verhältnis von Zuwanderung und Moral geschrieben. „Wie hältst Du’s mit der Moral?“ lautet die hochaktuelle Gretchenfrage, und die Antworten könnten verschiedener nicht sein.
Um in einen echten Diskurs einzutreten und nicht einfach nur starrköpfig die eigene Meinung zu vertreten, bedarf es zunächst des Verständnisses der anderen Positionen. Was so selbstverständlich klingt, wird im hitzigen Diskussionsklima zu einer echten Herausforderung. Denn auch der fundamentalistische Pegidaist muss das Recht haben, seinen Standpunkt darzustellen; erst danach darf man an die Dekonstruktion der kruden Positionen denken.
Die schrumpfende Mittelschicht sieht sich von den Zugewanderten bedroht. Ihr wackliger Status Quo wird durch die Masse der Gleichgestellten und nicht selten sogar besser Qualifizierten noch stärker bedroht. Die täglichen Erfahrungen des realen Verdrängungswettbewerbs führen zu einem permanenten Entzündungszustand und schaffen ein Klima der Angst vor weiteren Veränderungen. Dieses Angstpotenzial wird von den Rechten geschürt und populistisch für ihre Zwecke genutzt; diese Strategie ist nicht neu, sie hat sich in der tausendjährigen Dekade bewährt.
Leider sind die großkoalierenden Parteien nicht in der Lage oder willens, diese Ängste als real zu begreifen und den Menschen in ihrer Furcht vor dem Unbekannten ihre Würde zu lassen. Stattdessen werden AfD und Pegida medial niedergemacht und die Dresdner Montagsmarschierer als dumm gebrandmarkt. Diese Ignoranz ist gefährlich und führt nur zu weiteren Polarisationen, wie die jüngsten Landtagswahlen beweisen.
Konrad Ott hat zwar auf seine Weise ein hoch politisches Buch geschrieben, doch seinen Schwerpunkt legt er eindeutig auf die philosophische und ethische Beschäftigung mit den Themen Flucht, Asyl, Migration und Integration. Seine Sprache ist leicht verständlich und der Text liest sich flüssig. Die wichtigsten Begriffe, die immer wiederkehren, sind in einem kleinen Glossar zusammengetragen.
Nach der Lektüre ist man nicht nur schlauer, sondern kann den eigenen Standpunkt zu den brennendsten politischen Fragen besser begründen. Wir müssen uns alle positionieren, denn kaum eine Entwicklung wird die deutsche Gesellschaft in Zukunft nachhaltiger verändern als die Zuwanderung von Menschen aus anderen Kulturen. Unsere Zeit sieht sich vor große Herausforderungen gestellt, und heute entscheidet sich, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen. Wie soll das Deutschland der Zukunft aussehen? Die Antwort findet sich nicht in diesem Buch, aber es bietet die philosophischen und ethischen Grundlagen für eine kompetente und sachliche Diskussion dieser Frage.
Autor: Konrad Ott
Titel: „Zuwanderung und Moral“
Gebundene Ausgabe: 94 Seiten
Verlag: Reclam, Philipp, jun. GmbH
ISBN-10: 3150193761
ISBN-13: 978-3150193761
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