Heidrun Reinhard: „Mondo Veneziano — Menschen und Paläste am Canal Grande”
Am: | März 22, 2016
Thomas Mann nannte Venedig „die unwahrscheinlichste aller Städte“. Seit Jahrhunderten beflügelt die Lagunenstadt die Fantasie ihrer Besucher. Als fester Punkt auf der Route der Grand Tour wurde Venedig zum integralen Bestandteil jeder Bildungs- und Italienreise. Die zahlreichen Eindrücke und die Erzählungen über diese faszinierende und geheimnisvolle Stadt trugen ihrerseits zur Legendenbildung bei und nährten die europäische Sehnsucht nach dem Zauber jener Stadt auf dem Wasser und ihrer Bewohner.
Wer schon einmal Venedig besucht hat, kennt diese seltsame Wirkung, die von der Atmosphäre dieser Stadt ausgeht. Das Labyrinth aus kleinen steinernen Brücken und verwinkelten Wegen, die durch schmale Tore und immer entlang des Wassers in immer unbekanntere, doch stets lockende Winkel führen, übt einen Reiz aus, dem sich wohl niemand entziehen kann.
Ganz anders, viel luftiger und breiter, ist der Canal Grande. Seine Wasser sind viel belebter und vom Brausen der unzähligen Boote durchwühlt, die Menschen und Waren auf dieser breiten Wasserstraße entlangbefördern. Hier stehen die großen Paläste, die repräsentativsten Häuser der Stadt, deren Fassaden man bewundert, doch deren Inneres nur die Wenigsten betreten dürfen. Was mag sich hinter diesen wunderschönen Mauern befinden? Wer wohnt und wohnte in diesen herrschaftlichen Häusern und schaute aus den Fenstern auf diesen Canal?
Die venezianische Gesellschaft war in wenige, voneinander getrennte Schichten unterteilt. An ihrer Spitze stand eine Oligarchie aus nur etwa vierzig Familien, meist reiche Kaufleute, die die Politik dieses Stadtstaates bestimmten; vor ihren Namen trugen sie die Bezeichnung N. H. (nobilhomo) bzw. N. D. (nobildonna). Ihnen untergeordnet waren die privilegierten cittadini, die zwar nicht regierungsberechtigt, jedoch in der Verwaltung tätig waren. Beide Stände machten ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung aus. Der große Rest des Volkes, die popolani, waren von Regierung und Veraltung ausgeschlossen.
Bis heute bestimmen die spätgotischen Paläste aus dem 15. Jahrhundert das Bild am Canal Grande. Einige Paläste stammen jedoch auch noch aus dem 12. oder 13. Jahrhundert. Ihre Namen sind manchmal recht kompliziert, was durch ihre vielen Bewohner zu erklären ist, die jeder auf seine Weise dem Gebäude eine eigene Prägung gab. Mit der Gotik im 14. Jahrhundert bildete sich die für die meisten Paläste (und das heutige Erscheinungsbild) charakteristische Dreiteilung der Fassade aus.
Heidrun Reinhard ist Kunsthistorikerin und Germanistin. Sie hat lange Zeit als Lektorin und freie Autorin gearbeitet. Jetzt hat sie nach langjährigen Studien ihrer zweiten Heimat Venedig dieses schöne Buch gewidmet. Das Ergebnis kann sich wirklich sehen lassen. Die Autorin hat aus den verschiedensten Quellen Informationen zusammengetragen und in ein buntes Mosaik dieser Palazzi und ihrer Bewohner verwandelt. Reinhard zeigt uns Venedig aus der Innenperspektive; sie erfüllt die schönen, aber doch von außen nur leere Form bleibenden Fassaden der Paläste mit Leben, sowohl im historischen als auch im mentalitätsgeschichtlichen Kontext.
Das Buch stellt nicht nur die wichtigsten Palazzi am Canal Grande in ihrer kunstgeschichtlichen Bedeutung vor, sondern berichtet auch über seine Erbauer und seine Bewohner. Vor allem aber bindet die Autorin immer die Zeit- und Kulturgeschichte Venedigs in ihre Erzählungen ein, so dass der Leser einen mittelbaren Einblick in die venezianische Lebensart und Mentalität in ihrem historischen Wandel erhält.
Die Architektur wird für die Autorin ein Mittel zum Zweck ihrer Beschreibung der venezianischen Geschichte; gleichzeitig macht dieser Zugang auch deutlich, wie sehr Stadtarchitektur nicht nur ein Gegebenes der räumlichen Verhältnisse ist, sondern diese auch selbst mitprägt und verändert.
Der bei Lambert Schneider verlegte Band sticht nicht nur durch eine hervorragende Druckqualität und eine feste Bindung hervor, sondern wird auch durch die zahlreichen Abbildungen zu einem echten Lesevergnügen. Der Schreibstil der Autorin ist flüssig und leicht lesbar, so dass die Lektüre auch durch den Faktenreichtum und die vielen kunst- und zeitgeschichtlichen Details nicht zu schwer wird.
Wer schon immer einmal wissen wollte, was sich hinter den schönen Fassaden verbirgt, muss „Mondo Veneziano“ lesen. Für den Venedig-Besucher gibt die Autorin im Anhang auch zahlreiche Tipps, wie man selbst den Besuch eines der schönen Palazzi vorbereiten kann, denn einige von ihnen sind zumindest in Teilen auch zugänglich. Was man darüber hinaus über die Paläste wissen kann, findet sich in diesem wundervollen Buch, das Lust auf eine Venedig-Reise macht.
Autor: Heidrun Reinhard
Titel: „Mondo Veneziano — Menschen und Paläste am Canal Grande”
Gebundene Ausgabe: 272 Seiten
Verlag: Lambert Schneider
ISBN-10: 3650401363
ISBN-13: 978-3650401366
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