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Rezensionen von Büchern aus den Kultur- und Geisteswissenschaften

Boris von Brauchitsch (Hg.): „Alles außer Arbeit – Berliner Lust in den Zwanziger Jahren“

Am: | März 14, 2016

Boris von Brauchitsch (Hg.): „Alles außer Arbeit – Berliner Lust in den Zwanziger Jahren“In seiner Einleitung bringt uns Boris von Brauchitsch auf Kurs: Er führt ein in die Alltagswelt der Zwanziger Jahre, in die entstehende Freizeitkultur und ihre bevorzugten Etablissements: das Varieté, die Kneipe, der Lunapark, das Strandbad und die Wälder. Die Weimarer Jahre waren geprägt durch die neu entstehende Massenkultur, medial begleitet von Radio und Film.

Berlin war 1920 die drittgrößte Stadt der Welt, nach New York und London. 1925 übersprang die Einwohnerzahl die 4-Millionen-Marke. Das Berliner Leben zeichnete sich vor allem durch sein hohes Tempo aus: Hier musste alles sofort erledigt werden; Stillstand bedeutete schon damals Rückstand. Wer nicht mitmachte, fiel hinten runter. So ging es vielen damals.

Die Dynamisierung nahezu aller Lebensbereiche machte auch vor der Freizeitkultur nicht Halt. Schon damals kannte man die Vergnügungspflicht und den Anspruch, in der zur Verfügung stehenden Zeit möglichst viel zu erleben — ein Gefühl, dass uns auch heute nicht ganz unbekannt ist.

Nach dem überstandenen Ersten Weltkrieg war die Wirtschaftskraft nur noch halb so stark wie vor dem Krieg. Die zu leistenden Reparationszahlungen belasteten die Wirtschaft noch mehr, und so kam es bald zu großen sozialen Problemen, die in der Hyperinflation von 1923 ihren Höhepunkt fanden. Danach ging es wirtschaftlich bergauf, wenngleich große Teile der Bevölkerung nach heutigem Maßstab in Armut lebten. Gleichzeitig öffnete sich die Gesellschaft nach dem Krieg und ermöglichte nicht nur einen Aufschwung der Wissenschaften, sondern auch die Schaffung ganz neuer kultureller und moralischer Freiräume.

Die Arbeit des Instituts für Sexualwissenschaft unter der Leitung von Magnus Hirschfeld gehört ebenso zu diesen neuen freien Denkräumen der Weimarer Republik, wie die erotischen Tänze einer Anita Berber oder auch die schwule Subkultur, die auch schon damals rund um den Berliner Nollendorfplatz ihre Treffpunkte hatte.

Die Lockerung der Sexualmoral auf der einen Seite und die durch die soziale Not bedingte massenhafte Prostitution in Berlins Straßen führte schnell dazu, dass Berlin international zur „sexiest city in Europe“ avancierte. Das Berliner Nachtleben war berüchtigt für seine Freizügigkeit, und die Theater- und Kabarett-Szene der Metropole feierte sich selbst in einer scheinbar nie enden wollenden Party.

In Berlin gab es wirklich alles — „Alles außer Arbeit“, denn die gab es in der tat nicht für jeden, und viele blieben auf der Strecke. Doch der Aufbau einer kapitalistischen Warenwirtschaft im modernen Stil führte zur Herausbildung eines neuen Standes: den Angestellten. Das Heer dieser kleinen Ladenmädchen, Büro-Angestellten und Arbeitnehmern im Dienstleistungssektor ließ auch ganz neue Arbeitsbedingungen entstehen, die plötzlich neben der Arbeitszeit auch eine „Frei-Zeit“ ermöglichten.

Diese Freizeit wollte gefüllt sein mit sinnvoller Beschäftigung, die einerseits Entspannung von der Arbeit garantieren und andererseits die Familie auch nicht zu kurz kommen lassen sollte. So ist auch der grandiose Erfolg des Films mit seinen unzähligen „Lichtspielhäusern“ und „Film-Palästen“ ohne diesen Wandel der Arbeitswelt undenkbar.

Am Wochenende legte der von der Arbeit erschöpfte Berliner nicht etwa nur die Beine hoch, sondern er fuhr ins Grüne. Und wenn es mal weiter rausging, vor die Tore der Stadt, so machte man eine „Landpartie“. All das wurde teils mit militärischem Ernst geplant und durchgeführt, teils traf man sich einfach mit den freunden und lümmelte in den Parkanlagen rum. Es war eine neue Freiheit, die unter Kaiser Wilhelm undenkbar gewesen wäre.

Berlin war eine Stadt im Umbruch. Die alten Mietskasernen wurden nach und nach abgerissen, und neue Bauten wurden errichtet, mit mehr Raum, mehr Luft und Sonne. Die Stadt wechselte ihr Gesicht. Und doch gab es noch viele dunkle Ecken, wo im sechsten, siebten, achten Hinterhof das Licht kaum bis zum Boden kam.

Dennoch waren der Umbruch und der Wille zum Aufbruch überall zu spüren. Wegen seiner vielen Neubauten, die an allen Ecken der Stadt aus dem Boden gestampft wurden, bekam Berlin seinerzeit den ruf, die amerikanischste Stadt in Europa zu sein. Wie sich das Stadtbild veränderte, so veränderte sich aber auch die Gesellschaft. Natürlich gab es immer noch die konservativen und revisionistischen Kräfte (die letztlich dann ja auch den Weg ins Dritte Reich ebneten), doch insgesamt war das gesellschaftliche Klima der Weimarer Zeit von einer Offenheit geprägt, die viele Menschen ermutigte, ihr Leben selbstbestimmter zu leben und sich dem Neuen nicht zu verschließen.

Die politische Polarisierung von links und rechts, die Straßenkämpfe, die Angst und die Ungewissheit, was kommen wird — all das findet sich nicht in diesem Bilderbuch. Es will Geschichten erzählen, schreibt von Brauchitisch in seiner Einleitung. Es geht hier weniger um die akribische Dokumentation des Großstadtlebens, als um ein Nachspüren des Lebensgefühls jener Zeit. Dieses Lebensgefühl lässt sich erahnen, wenn man die Bilder in diesem Buch auf sich wirken lässt.

Uns begegnen Menschen, die auf dem Fahrrad fahren, Kinder, die spielen, Erwachsene, die in Bars und Varietés sitzen, Familien, die Schlittschuh fahren, Jugendliche, die auf der Wiese liegen und Radio hören: Es sind Menschen, die uns ähnlich sind, deren Blick uns manchmal direkt trifft, wenn sie in die Kamera schauen. Es sind Menschen, die alle nicht mehr am Leben sind. Menschen, die in einer kurzen Phase des Friedens Luft holen und sich entspannen. Sie wissen nichts von dem heraufkommenden krieg, der noch länger, noch schrecklicher und vernichtender sein wird als jener, den sie gerade überstanden haben.

Nehmen Sie sich Zeit für dieses Buch! Es sind „nur“ 128 Seiten, die jedoch durchgehend illustriert sind. Die Qualität der Reproduktionen ist gut — gut genug, um diese Fotos auch mit der Lupe anzuschauen und Details zu entdecken, die beim flüchtigen Blättern verloren gingen. Also nehmen Sie sich Zeit, und Sie werden ein bisschen nachfühlen können, wie sich die Menschen damals, vor 90 Jahren, gefühlt haben müssen.

Einziger kleiner Minuspunkt dieses wirklich wunderschön gestalteten Geschichtenbuches ist sein Geruch. Hier ein Tipp: Nach dem Auspacken aus der Schutzfolie sollte man den Bildband zunächst für einige Tage an einem schattigen und trockenen Plätzchen auf dem Balkon lagern, damit die unangenehmen Lösungsmittel ausdampfen können. Danach aber steht einer ungestörten Lektüre nichts mehr im Wege!

 

Autor: Boris von Brauchitsch (Hg.)
Titel: „Alles außer Arbeit – Berliner Lust in den Zwanziger Jahren“
Gebunden: 128 Seiten
Verlag: Edition Braus
ISBN-10: 3862281418
ISBN-13: 978-3862281411

 

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