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Gerhard Paul: “Das visuelle Zeitalter — Punkt und Pixel”

Am: | März 5, 2016

Gerhard Paul: “Das visuelle Zeitalter — Punkt und Pixel”Der kreisförmige Rasterpunkt und der viereckige Pixelpunkt — dies sind die beiden Urelemente des visuellen Zeitalters. Mit dieser These beginnt Gerhard Paul seine beeindruckende und umfangreiche Monographie über das visuelle Zeitalter.

Seit der technischen Reproduzierbarkeit der Wirklichkeit durch die Fotografie und die reproduzierenden Drucktechniken hat sich der Blick auf die Welt — und in die Welt — radikal gewandelt. Was in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann, führte zur Mobilisierung des Auges und zur Herausbildung des „Visual Man“, des visuellen Menschen in seiner modernen Form.

Georg Simmel war sicherlich nicht der Erste, der auf den „Primat des visuellen Sinnes“ hingewiesen hat, aber jene aus seiner Großen Soziologie von 1908 stammende These steht im unmittelbaren Zusammenhang mit den Großstadterfahrungen der Moderne. In jener Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann im Zuge der Industrialisierung ein radikaler Umwälzungsprozess in unserer Gesellschaft: Es waren die Anfänge der modernen Massengesellschaft und der sie begleitenden Massenkultur.

Was seinerzeit seinen Siegeszug antrat — zunächst in der Fotografie und der grafischen Kunst, dann schon bald im Film, in der Reklame und den Leuchtschriften —, führte schnell zu einem neuen Sehen, einer veränderten Wahrnehmung in Auseinandersetzung mit der Vielzahl visueller Reize. Diese Reizüberflutung war vor allem in den schnell wachsenden Großstädten gegeben, in denen plötzlich Massen von Menschen lebten, oftmals isoliert und anonym. Besonders die vielen Arbeitssuchenden, die zur Zeit der Industrialisierung vom Lande in die Städte zogen, wurden vom Trubel und Treiben des Großstadtlebens geradezu überwältigt.

Für die Menschen jener Zeit um 1900 waren diese Veränderungen von derart grundlegender Natur, dass man nicht nur von seinen „Großstadterfahrungen“ sprach, sondern auch gleich ein neues Krankheitsbild für diese nervöse Überreizung fand: die Neurasthenie. Das „nervöse Zeitalter“ der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, das sich an dem eigenen Lebenstempo berauschte und in einem ungebrochenen Fortschrittsglauben an die Dynamisierung aller Lebensbereiche ging, war vor allem Anderen auch ein visuelles Zeitalter.

Es war die Zeit, in der die Reklame aufbrach, die Massen in den Städten mit ihren Nachrichten zu bombardieren. Es war aber auch jene Zeit, in der die Propaganda auf Plakaten und Flugblättern das öffentliche Bewusstsein dafür schärfte, dass dem deutschen Kaiserreich ein großer, reinigender Krieg bevorstand, der unabwendbar zu sein schien.

Nach den traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs war die Gesellschaft der Weimarer Republik tief gespalten und befand sich in einer seltsam instabilen Stimmungslage, die zwischen der Freude über das eigene Überleben und der Sorge um die allernächste Zukunft oszillierte. Die technische Entwicklung des Films — zunächst als Stummfilm und ab Ende der 1920er Jahre auch als Tonfilm — führte zu weiteren Veränderungen.

So lieferte der Film erstmals eine direkte lebendige Vorlage für das eigene Leben: Die Menschen konnten sehen, wie sich Menschen in bestimmten Situationen verhielten. Diese filmische Darstellung menschlichen Handelns und Verhaltens hatte auch normative Funktion und forderte den Zuschauer zur Nachahmung auf. Es war die Zeit der Filmstars und des Glanzes.

Im Dritten Reich wurden die visuellen Medien zu mehr oder weniger reinen Propaganda-Werkzeugen. Ob im Spielfilm, dem illustrierten Buch, dem Magazin oder im Plakat waren die visuellen Inhalte völkisch konnotiert und nicht selten auch mit der nationalsozialistischen Rassenideologie kontaminiert. Ob UFA-Film, Wochenschau oder Plakat-Anschlag: Es ging um die Gleichschaltung der Massen im Sinne der Partei sowie um die positive Herausarbeitung der Vorbild-Funktion der Protagonisten, seien es die UFA-Stars oder die marschierenden Soldaten der Wehrmacht.

Gerhard Paul schlägt in diesem opus magnum den ganz großen Bogen vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, so dass natürlich auch die Zeit der beiden deutschen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg und ihre jeweilige mediale Verfasstheit von ihm genauestens analysiert wird. Die Zeit des Kalten Krieges und der Propaganda auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs war immer auch von einer starken Emphase der visuellen Medien geprägt: Fernsehen und Film waren die Leit-Medien der nachrichten-, Informations- und Emotions-Übertragungen jener Zeit — und sind es bis heute geblieben.

In den 1980er Jahren entstand ein zweites Urelement neben dem Rasterpunkt der Druck- und Fernsehtechnik: der digitale Bildpunkt. Mit dem Siegeszug des Personal Computers und dann wenig später auch mit der Entwicklung des Internets vollzog sich eine Revolution der Massenmedien. Plötzlich gab es neben den einseitig streuenden Massenmedien eine neue Form der Massenkommunikation, die erstmals auch einen Rück-Kanal vorsah. Mit dem Internet war jeder plötzlich in der Lage, selbst zum Sender zu werden und seine Inhalte einem breiten, weltweiten Publikum anzubieten.

Die Digitalisierung der visuellen Inhalte führte darüber hinaus zu einer Demokratisierung der Reproduktionsverhältnisse. Was früher nur in Litho-Anstalten und Druckhäuser, in Film- und Fernseh-Studios sowie in fotografischen Werkstätten hergestellt werden konnte, war dank der neuen digitalen Techniken nun jedermann möglich. Der Siegeszug der digitalen Aufnahmegeräte und der Computertechnologie hat zu einer Entwicklung geführt, deren Auswirkungen und unbegrenztes Wachstum wir heute noch beobachten.

Das letzte Glied in dieser Kette von technischen Entwicklungen sind die Smartphones und Tablets, die zu einer unüberschaubaren Bilder- und Film-Produktion geführt haben, deren Massenhaftigkeit und Allgegenwärtigkeit bei vielen schon ein Übersättigungsgefühl auslösen und gegenläufige Tendenzen (digitale Abstinenz) herausbilden.

„Das visuelle Zeitalter“ bietet eine faszinierende Lektüre, denn das Buch zeigt deutlich, wie sehr wir alle von den visuellen Informationen geleitet werden, die uns täglich umgeben und auf uns einprasseln. Gerhard Paul eröffnet dem Leser in seinem Mammutwerk einen kompetenten, fachlich fundierten und gleichzeitig gut lesbaren Einblick in die historischen Zusammenhänge dieser Entwicklung der visuellen Medien von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart.

Gerhard Paul ist Geschichtsprofessor an der Universität Flensburg. Gleichzeitig hat er bereits mehrere größere Arbeiten zu bildwissenschaftlichen Themen veröffentlicht. „Das visuelle Zeitalter — Punkt und Pixel“ ist jedoch die bislang umfangreichste Abhandlung zum Thema der visuellen Medien und ihrer Wahrnehmung.

Der vorliegende Band ist die erste europaweite Veröffentlichung zur Geschichte der Visualität seit der Erfindung der Fotografie vor 175 Jahren bis zur Gegenwart. Der im Wallstein Verlag erschienene Titel verführt mit vielen, vielen Abbildungen sowie mit einer, wie immer, hervorragenden Reproduktions- und Druckqualität.

Lesen Sie „Das visuelle Zeitalter“ von Gerhard Paul! Vor Ihnen liegen 760 prall gefüllte Seiten, die Ihnen die Augen über unser enges Verhältnis zur Visualität öffnen werden und Ihnen zeigen, wie sehr wir von den Bildern um uns herum sowie von den Bildern in unseren Köpfen in unserem Handeln beeinflusst werden.

 

Autor: Gerhard Paul
Titel: “Das visuelle Zeitalter — Punkt und Pixel”
Gebundene Ausgabe: 760 Seiten
Verlag: Wallstein
ISBN-10: 3835316753
ISBN-13: 978-3835316751

 

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