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Sacha Batthyany: „Und was hat das mit mir zu tun?“

Am: | Februar 22, 2016

Sacha Batthyany: „Und was hat das mit mir zu tun?“Wie fühlt man sich, wenn man plötzlich mit der Frage konfrontiert wird, ob die eigene Tante an einem grausamen Kriegsverbrechen beteiligt sein könnte?

Sacha Batthyany ist 1973 geboren, wuchs in Zürich auf — in der Schweiz, dem wohl „wattiertesten Land Europas“. Seine Familie entstammt einem alten ungarischen Adelsgeschlecht, doch das ist alles lang, lang her. Batthyanys Tante war eine angeheiratete Thyssen-Erbin, milliardenschwer. Sie starb 1989, und für den Autor war sie immer nur die seltsame Tante Margit, die „Tante mit der Zunge“ gewesen, weil sie zwischen den Sätzen, die unaufhörlich aus ihrem Mund sprudelten, immer wieder kurz ihre spitze Zunge herausschob wie eine Eidechse.

Batthyany wuchs in einem behüteten, bürgerlichen Umfeld in Zürich auf, studierte nach der Schule Soziologie in Zürich und Madrid, arbeitete dann als Journalist für den Tages-Anzeiger und ist heute Dozent der Schweizer Journalistenschule. Seit 2015 lebt und arbeitet er als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Washington.

Mit der eigenen Familiengeschichte kam er in der Zeitungsredaktion der Neuen Zürcher Zeitung in Berührung, als ihn eine Kollegin darauf ansprach, was seinerzeit den Weg durch die Presse machte: „Die Gastgeberin der Hölle“ war jener Artikel übertitelt, in dem von dem Massaker an 180 Juden im österreichischen Grenzstädtchen Rechnitz die Rede war. Das war am Ende des Krieges, im April. Ein rauschendes Fest hochrangiger NS-Militärs, auf dem getrunken, getanzt und der Untergang gefeiert wurde, fand seinen grausamen Höhepunkt in der Erschießung von 180 ungarischen Juden, die sich, bevor sie von den Partygästen durch einen Schuss in den Kopf oder Nacken getötet wurden, nackt ausziehen und ihr eigenes Grab ausheben mussten. Danach ging es wieder zurück zur Feier, wo man fröhlich weitertrank und tanzte, als ob nichts geschehen wäre. Gastgeberin dieser höllischen Gesellschaft war Batthyanys Tante Margit.

„Und was hat das mit mir zu tun?“ war nach dem ersten Zweifeln die naheliegende Reaktion des Autors. Natürlich gehörte Tante Margit zur Familie, aber sie war eine Angeheiratete. Er hatte sie schon immer als eine seltsam distanzierte und herrische frau in Erinnerung, deren Lieblingskommentar „verfaulter Keim“ war, was sich ursprünglich auf das Geschlecht der Batthyanys bezog, aber auch immer gut zu anderen Anlässen passte.

Was wäre, wenn wirklich etwas dran war an den Vorwürfen? Hatte Tante Margit wirklich an der Erschießung der Juden teilgenommen? War sie wohlmöglich sogar selbst solch ein „verfaulter Keim“ der Familie, der zu solchen Gräueltaten imstande war?

Die ganze Familie wusste nichts davon. Ja, es sei wohl in jener Nacht zu dem Verbrechen von Rechnitz gekommen, aber weder die Festgesellschaft noch Tante Margit selbst habe etwas damit zu tun gehabt. — Augenzeugen sahen das anders. Nach Kriegsende wurde der Prozess gemacht, und eine Reihe der Partygäste wurden angeklagt, einige zu einer mehrjährigen Kerkerhaft verurteilt, während aber die beiden Hauptverdächtigen, Franz Podezin und Hans-Joachim Oldenburg, Tante Margits Geliebter, waren auf der Flucht.

Der Prozess kam ins Stocken und wurde bald eingestellt, nachdem die beiden Hauptzeugen ermordet wurden. Wer hierbei an Zufall denkt, wäre naiv. Die Vergangenheitsbewältigung fand nach dem Kriege oft nur in Form von Vergangenheitsverdrängung statt. So lebte auch Podezin bis 1963 vollkommen unbehelligt in Westdeutschland; als dann der Prozess erneut aufgerollt wurde, floh er nach Dänemark und in die Schweiz; seine Spuren verlieren sich in Südafrika, wo er wohl in den 1990er Jahre verstarb.

Batthyany lässt der Gedanke nicht mehr los, dass seine Familie, von der er immer geglaubt hatte, dass sie die Zeit des Dritten Reiches eher als Mitläufer durchstanden hätte, aktiv an Nazi-Verbrechen beteiligt gewesen sein könnte. So beginnt der Autor im Kreis der Familie zu recherchieren und erstmals die bekannte Frage zu stellen: „Was hast Du im Krieg gemacht?“.

Selbst sein Vater ist ahnungslos, kann zunächst die ganzen Zeitungsgeschichten nicht glauben. Seine Mutter Maritta, Batthyanys Oma, war jedoch aus derselben Generation wie Tante Margit, und somit war sie auch ein ganzes Stück näher dran. Der Autor hatte noch kurz Gelegenheit, die alte Dame zu befragen, bevor sie hochbetagt verstarb. Sie hatte in den letzten Lebensjahren begonnen, ihre Erinnerungen aufzuzeichnen; diese Unterlagen erhielt Batthyany nach Marittas Tod von seinem Vater. Es ist – neben der Frage nach der Beteiligung Tante Margits an den Verbechen jener Märznacht 1945 – vor allem das Tagebuch seiner Großmutter, das den Autor auf eine Spurensuche in die Vergangenheit der eigenen Familie führt.

Die Suche nach der Wahrheit in der Geschichte seiner Familie führt den Autor nicht nur nach Rechnitz, sondern auch nach Buenos Aires, Sibirien und Ungarn. Es ist eine lange Suche, und die Rekonstruktion der Ereignisse jener Nacht vom 24. Zum 25. März 1945 gestalten sich mühsam. Wie die Teilchen eines großformatigen Puzzles fügen sich die Informationen aus den unterschiedlichsten Quellen zusammen und ergeben am Ende ein Bild, das erfordert, dass die Geschichte von Batthyanys Familie neu geschrieben werden muss.

Es war die Verantwortung der Kinder, die materialen Trümmer des Krieges aus der Welt zu schaffen und Neues zu bauen. Es ist die Verantwortung der Kriegsenkel, die seelischen Trümmer zu beseitigen und die Traumata aufzuarbeiten, die durch den krieg entstanden sind. Folgerichtig besucht der Autor auch die Praxis eines Psychoanalytikers, selbst Holocaust-Überlebender, um mit ihm jene Suche nach der verlorenen Geschichte der eigenen Familie durchzusprechen und zu verarbeiten.

„Und was hat das mit mir zu tun“ ist ein aufwühlendes Buch, das für jene Generation geschrieben ist, deren Eltern den Krieg und seine Gräueltaten noch selbst miterlebt haben. Die Aufarbeitung der eigenen Kriegsgeschichte ist nur in wenigen Familien wirklich angegangen worden, zu verlockend war die Möglichkeit, den dichten Schleier des Vergessens über die eigene Geschichte zu werfen. Was auch die Nachkriegsgeneration an guter Aufklärungs- und Vorarbeit geleistet haben mag, es war nicht genug. Jetzt ist die nächste Generation dran, ihre Fragen zu stellen und nicht nachzugeben, wenn die Antworten nur zögerlich und lustlos daherkommen.

Je weiter man in der Lektüre dieses spannend geschriebenen und mit vielen wichtigen Informationen angereicherten Berichts einer Recherche vorankommt, desto klarer wird, dass die zunächst vielleicht naheliegende Frage, „Und was hat das mit mir zu tun?“, eine ganz andere Bedeutung bekommt. Die Betonung liegt jetzt nicht mehr auf einer mit den Schultern zuckenden Zurückweisung jener Frage nach der Verflechtung der eigenen Familie in Nazi-Verbrechen, sondern es geht plötzlich um die eigene Verantwortung, die sich uns allen im Angesicht der potentiellen Möglichkeit einer solchen Verflechtung unserer Vorfahren stellt.

Batthyanys Buch liest sich wie ein Roman, was auch nicht besonders verwundert, da der Autor ja seit vielen Jahren als Journalist, sondern auch als Dozent der Schweizer Journalistenschule arbeitet. Er versteht sein Handwerk und weiß, wie man den Leser bei der Stange (oder besser: bei der Lektüre) halten kann.

Spannend wird die Frage, ob Batthyanys Spurensuche Nachfolger finden wird. Draußen im Lande dürften sich auch 70 Jahre nach Kriegsende noch einige dunkle Kapitel in den Familiengeschichten finden. Damit sie doch noch erzählt werden, muss man sie durch wiederholtes Nachfragen vor dem endgültigen Vergessen bewahren. Es kann durchaus sein, dass auch wir heute Lebenden uns den Opfern der Nazi-Verbrechen gegenüber schuldig machen, wenn wir diese Aufgabe nicht annehmen und den Hinterbliebenen in unserer Familie immer wieder die altbekannte Frage stellen: „Was hast Du während des Krieges gemacht?“, bis wir darauf eine plausible und umfassende Antwort erhalten haben.

 

Autor: Sacha Batthyany
Titel: „Und was hat das mit mir zu tun? — Ein Verbrechen im März 1945. Die Geschichte meiner Familie“
Gebundene Ausgabe: 256 Seiten
Verlag: Kiepenheuer&Witsch
ISBN-10: 3462048317
ISBN-13: 978-3462048315

 

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