Erich Fromm: „Die Kunst des Liebens“
Am: | Februar 10, 2016
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass Sie dieses Buch bereits aus Ihrer Jugend kennen. Erich Fromms „Kunst des Liebens“ gehört genauso zum Kanon jener Bücher, die man als Jugendlicher gelesen haben musste, wie der „Steppenwolf“ von Hermann Hesse oder „Tonio Kröger“ von Thomas Mann.
Doch sagen Sie jetzt, nicht, dass Sie das Buch kennen und sich noch gut daran erinnern, was drinsteht! Eine erneute Lektüre lohnt sich, wobei es nicht wichtig ist, ob Sie 30, 50 oder gar 70 Jahre alt sind.
Die Lektüre eines Buches ist immer altersbedingt verschieden. Der jeweils vorhandene Erfahrungshorizont entscheidet zu nicht unerheblichen Anteilen darüber, ob wir Gefallen an einem Buch finden oder nicht, und er bestimmt, ob ein Buch uns etwas zu sagen vermag oder nicht.
Als ich kürzlich Fromms „Kunst des Liebens“ zur Hand nahm, war es die Begegnung mit einem alten Bekannten. Wir hatten uns fast vier Jahrzehnte aus den Augen verloren, und doch wussten wir sofort, mit wem wir es zu tun haben. In der Zwischenzeit hatte ich Einiges über mein Gegenüber erfahren: Erich Fromm war Psychoanalytiker, Philosoph und Sozialpsychologe, und er vertrat einen demokratischen Sozialismus. Seine Kontakte zu marxistisch orientierten Psychologen in den 1920er Jahren sowie zum Institut für Sozialforschung in Frankfurt rund um Horkheimer und Adorno waren für sein Denken außerordentlich prägend.
Nach der Machtergreifung 1933 emigrierte Fromm zunächst nach Genf und schon 1934 in die USA, wo er an die New Yorker Columbia University ging. Mit dem Institut für Sozialforschung kam es immer häufiger zu Konflikten, die 1939 mit einer Trennung endeten. Später ging Fromm nach Mexiko, wo er bis zu seinem 74. Lebensjahr lebte, bevor er den letzten Lebensabschnitt in der Schweiz verbrachte.
All dies wusste ich nicht, als ich vor vielen Jahren „Die Kunst des Liebens“ zum ersten Mal las. Vielleicht ist es auch nicht unbedingt nötig, all diese biographischen Informationen zu kennen, um den Text in seiner Tiefgründigkeit zu verstehen — doch es kann auch nicht schaden, sie zu kennen.
Fromm entfaltet in diesem relativ kurzen und leicht lesbaren Text seine Grundthese, dass es sich bei der Liebe nicht um ein Geschenk handelt, nach dem man streben sollte, sondern um eine Gabe, eine Fertigkeit, die man erlernen kann. Es handelt sich also bei der Liebe um keinen, wie auch immer gearteten Zustand, sondern um eine Praxis, genauer: um eine techné im Sinne der griechischen Philosophie, also um eine Technik des Liebens.
Es geht folglich nicht um die Kunst, geliebt zu werden, sondern — wie es der Titel auch bestätigt — um eine „Kunst des Liebens“. Nur wer selbstlos liebt, wird auch selbst geliebt werden. Doch was genau ist denn eigentlich Liebe? Dieser Frage widmet sich der erste Teil des Buches, in dem Fromm versucht, eine Theorie der Liebe zu entwickeln. Die Liebe zwischen Eltern und Kind, Liebe als Antwort auf die menschliche Existenz, die verschiedenen Formen der Liebe — die mütterliche, erotische Liebe, die Nächsten- und die Selbstliebe. Im zweiten Teil wird die gesellschafts- und kulturkritische Haltung Fromms deutlich, wenn er die westliche Kultur mit einer Verfallsgeschichte der Liebe identifiziert. Die Erstausgabe von „Die Kunst des Liebens“ wurde 1956 bei Harper & Brothers in New York publiziert, in einer Zeit also, die einerseits durch eine aufstrebende und Wohlstand generierende Wirtschaft und eine sich rasant mit ihr entwickelnde Konsumgesellschaft in den USA geprägt war, die andererseits jedoch auch genau in der berüchtigten McCarthy-Ära lag, unter deren Auswirkungen Fromm als linker Intellektueller auch persönlich zu leiden hatte.
Im letzten (und vielleicht wichtigsten) Teil des Buches geht es schließlich um die Praxis der Liebe, eben um jene „Kunst des Liebens“, die als Slogan seitdem eng und untrennbar mit dem Namen Erich Fromm verbunden ist. Wenn man diesen letzten Teil besonders genau liest, wird deutlich, dass es Fromm vor allem um eine Kritik an der gegenwärtigen Konsumgesellschaft geht: ein Thema, das auch heute nichts von seiner Aktualität verloren hat. Letztlich ging es ihm darum, mit der „Kunst des Liebens“ ein Alternativmodells zu entwickeln, welches sich der kapitalistischen Denkweise widersetzt, deren Moralität allein auf der Gleichwertigkeit im gegenseitigen Austausch basiert:
„Ich gebe Dir so viel, und Du gibst mir im Gegenzug ebenso viel.“ Hierbei ist es egal, ob es sich um den Austausch von Waren oder Liebesbezeugungen handelt. Das kapitalistische Liebesmodell ist nach Fromm ein fundamental egoistisches Prinzip, das es zu überwinden gilt. Eine echte „Kunst des Liebens“ ist hingegen in der Lage, auch ohne erwartete Gegenleistungen zu lieben, einfach weil der Andere liebenswert ist. Die Mutterliebe kann hier als vorbildliches Exempel fungieren. Um zu einer solchen Liebeskunst zurück zu finden, braucht es die rationale Einsicht des Einzelnen und der Gesellschaft.
Fromm war ja überzeugt, dass die Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gesellschaft für beide Seiten prägend sind, dass also sowohl das Individuum durch die Gesellschaft geformt wird, als auch die Gesellschaft sich durch die Individuen, die in ihr leben, denken, fühlen und handeln, geformt wird. — Dieser Gedanke stammt nicht ursprünglich von Fromm selbst, sondern lässt sich u. a. auch schon bei Georg Simmel finden, der bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts jenes Spannungsverhältnis zwischen Vereinzelung und Vergesellschaftung erkannte und die Wechselwirkung als das Grundprinzip aller sozialen Prozesse charkterisierte.
Wenn man heute „Die Kunst des Liebens“ erneut liest, fallen andere Dinge ins Auge, als wenn ein Jugendlicher auf der Suche nach einem verständigen und angemessenen Umgang mit Liebesdingen ist. Deshalb sollte man Erich Fromm heute noch einmal lesen! Nicht zuletzt seine gesellschaftskritischen Positionen passen recht gut in unsere Gegenwart, und der Text hat auch nach 60 Jahren kaum an Aktualität verloren. Fromms Text ist gleichwohl das Dokument einer Zeit, in der der amerikanische Turbo-Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg gerade erst wieder ein wenig an Fahrt aufgenommen hatte; heute sind wir Zeitzeugen einer sich weiterhin beschleunigenden Entwicklung, die nicht mehr zu stoppen scheint, obwohl die Grenzen des Wachstums und der Wahnsinn des technisch Möglichen den meisten Menschen längst bewusst sind. — Lesen wir also wieder einmal Erich Fromms „Die Kunst des Liebens“, um vielleicht besser zu verstehen, an welchem Punkt der Geschichte wir uns heute befinden und was wir machen können, um unsere auf Konsum ausgerichtete Gesellschaft endlich in eine auf Liebe und Verantwortung basierende zu verwandeln.
Autor: Erich Fromm
Titel: “Die Kunst des Liebens”
Taschenbuch: 224 Seiten
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
ISBN-10: 3423361026
ISBN-13: 978-3423361026
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