Nadine Werner: “Archäologie des Erinnerns – Sigmund Freud in Walter Benjamins Berliner Kindheit”
Am: | Februar 3, 2016
Von Walter Benjamin stammt das Konzept einer „Dialektik des Erwachens“ in Bezug auf die Erinnerung. Benjamin hat sich intensiv mit den Phänomenen des Traums und des Rausches beschäftigt und seine Erkenntnisse vor allem in seinem Passagen-Werk beschrieben. Doch schon früher setzte er seine Erkenntnisse literarisch um. So ist auch seine „Berliner Kindheit um 1900“ kein biographischer Text im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr der Versuch, mit Hilfe von fragmentarischen Denkbildern eine Konstruktion der Wirklichkeit zu schaffen.
Auf der Meta-Ebene jedoch sind die Beschäftigung mit dem Gedächtnis und dem Erinnern die zentralen Bezugspunkte seiner „Berliner Kindheit“. Benjamin verwendet für seine spezifische Form des Erinnerns den Begriff des „Eingedenkens“. Für Benjamin ist das Eingedenken als die bewusste Vergegenwärtigung des Vergangenen stets auch ein Blick zurück in die Zukunft der Vergangenheit. Nach seinem Geschichtsverständnis ist die Vergangenheit niemals abgeschlossen; vielmehr bleibt die Vergangenheit auch im wiederholten Prozess ihrer bewussten Vergegenwärtigung offen für eine Rettung ihrer damaligen Zukunft, so dass auch die Geschichte selbst niemals fixiert kann, sondern stets aufs Neue geschrieben werden muss.
Im Gegensatz zu Marcel Prousts mémoire involontaire geht es Benjamin um das bewusste Erinnern; deshalb rief er während der Vorarbeiten zur „Berliner Kindheit“ auch „die Bilder, die […] das Heimweh am stärksten zu wecken pflegen – die der Kindheit – mit Absicht“ hervor. Das Verschüttete zu bergen, sich des Vergangenen durch den Akt des Erinnerns zu bemächtigen, ist für Benjamin eine Praxis des Erinnerns, die er mit dem Begriff des Eingedenkens verbindet.
Die Texte für das Projekt „Berliner Kindheit“ sind in den Jahren nach 1930 entstanden; es existieren verschiedene Fassungen, wobei bis auf Weiteres das 1981 in der Pariser Nationalbibliothek entdeckte, von Benjamin verfasste Typoskript als die Fassung letzter Hand gilt. Die Texte wurden teilweise in Zeitungen publiziert, als Ganzes erschien das Werk jedoch erst 1950, zehn Jahre nach Walter Benjamins Tod. Die erste Erwähnung findet die Arbeit an der „Berliner Kindheit“ in einem Brief an den Freund Gershom Scholem vom September 1932 aus Poveromo, in dem Benjamin schreibt, dass es sich hierbei um „Expeditionen in die Tiefe der Erinnerung“ handele.
Benjamin schätzte das Erkenntnispotential des Traumes als groß ein, und es ging ihm in diesem Zusammenhang um die „Erweckung eines noch nicht bewussten Wissens vom Gewesenen“ Benjamin schreibt weiter: „Erinnerung und Erwachen sind aufs engste verwandt. Erwachen ist nämlich die dialektische, kopernikanische Wende des Eingedenkens.“ So verstanden, ist die Erinnerung der Versuch, den Umschlag von traumhafter Ahnung der gesellschaftlichen Vergangenheit in ein waches Wissen herbeizuführen.
Nadine Werner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Walter-Benjamin-Archiv der Akademie der Künste in Berlin und hat sich im Rahmen des DFG-Projekts „Transformationen psychoanalytischer Konzepte: Benjamin – Freud“ intensiv mit der engen Verbindung zwischen diesen beiden Denkern beschäftigt. Die jetzt im Wallstein-Verlag publizierte Monographie „Archäologie des Erinnerns“ entspricht auch ihrer Dissertation an der Goethe Universität in Frankfurt.
Das Buch hat zwei große Abschnitte, die mit „Gedächtnistheorie“ und „Archäologie“ überschrieben sind. Im ersten Teil untersucht die Autorin Benjamins intensive Auseinandersetzung mit Marcel Proust und Sigmund Freud. Im zweiten Teil geht es um den metaphorischen Charakter des Begriffs der Archäologie sowie um Benjamins archäologische Schreibpraxis des Eingedenkens. Benjamins Eingedenken war stets ein Blick zurück in die Zukunft der vom Vergessen bewahrten Erinnerungen.
In allen Dingen ist eine potentielle Zukunft angelegt, die sich entfalten und erfüllen will. Auch in den Dingen, die vom Vergessen bedroht sind, ist eine solche potentielle Zukunft angelegt. An diesem Punkt kommt, wie sonst vielleicht nirgends in seinem Werk, Benjamins von der jüdischen Tradition geprägtes Geschichtsverständnis zum Ausdruck.
Auch wenn Werners Buch als Dissertation dient und somit einen hohen akademischen Anspruch vertritt, sind ihre Ausführungen zu Benjamins Archäologie des Erinnerns auch für den interessierten Laien nachvollziehbar. Und Studenten der Kulturwissenschaften und Philosophie werden in dieser Monographie ein neues Standardwerk zu einem zentralen Thema der Benjamin-Forschung finden.
Autor: Nadine Werner
Titel: “Archäologie des Erinnerns – Sigmund Freud in Walter Benjamins Berliner Kindheit”
Gebundene Ausgabe: 390 Seiten
Verlag: Wallstein
ISBN-10: 3835317288
ISBN-13: 978-3835317284
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