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Eva Menasse: „Lieber aufgeregt als abgeklärt. Essays“

Am: | April 17, 2015

Der Diskurs ist für Eva Menasse „jenes vielstimmige, oft nervige Meinen und Streiten, in dem eine offene Gesellschaft ihre Übereinkünfte und Frontlinien, Tabus und Dringlichkeiten überprüft und verändert“. Es ist die Aufgabe des Schriftstellers, an diesem Diskurs aktiv teilzunehmen und mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg zu halten.

Dieses teilnehmende Handeln schließt auch immer das potentielle Scheitern und eine spätere Revision der eigenen Standpunkte mit ein. Nicht selten ist es auch die eigene Gegeninstanz im Kopf, welche auch die Autorin sehr gut kennt und die schon beim Schreiben die eigene Meinung zu widerlegen droht. Wenn dann doch einmal ein Meinungsartikel ohne Gegenpositionen fertig ist, so grenzt dies schon an ein kleines Wunder.

Entscheidend ist jedoch immer die subjektive Stellungnahme des Schriftstellers sowohl zu aktuellen als auch zu zeitübergreifenden politischen und gesellschaftlichen Themen. Kollegen, die sich rein auf ihr literarisches Werk konzentrieren und sich nicht an öffentlichen Debatten beteiligen (wollen), kommen Eva Menasse vor „wie Kinder, die nie mitspielen wollen, weil man ja auch einmal verlieren könnte“. Wenn einem jedoch die öffentliche Meinung zu einem bestimmten Thema so falsch erscheint, dass man gar nicht anders kann, als dagegen anzuschreiben, erst dann gelangt man als Schreibende an einen Punkt, an dem jener „unausweichliche Akt der Selbstbehauptung“, jene öffentliche Stellungnahme, letzten Endes auch zu einem Gefühl der Genugtuung führen muss.

Eva Menasse gilt seit vielen Jahren nicht nur als Schriftstellerin, sondern auch als Feuilletonistin und Essayistin zu den wichtigsten Figuren der deutschen Literaturlandschaft. 1970 in Wien geboren, arbeitete die gelernte Journalistin und Publizistin längere Zeit als Redakteurin für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Seit 2003 lebt sie als freie Schriftstellerin und Publizistin in Berlin. Sie erhielt zahlreiche Literaturpreise, darunter den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln. Ihre Dankesrede zu dieser Preisverleihung bildet auch den Anfang dieses neuen Essaybandes von Eva Menasse.

Dieser Sammelband gliedert sich in vier Abschnitte, in denen Essays aus den Bereichen „Politisch-Feuilletonistisches“, „Literarisches“, „Autobiographisches“ und „Zwei Erzählungen“ versammelt sind. Diese Unterteilung ist selten trennscharf, weil die Autorin stets das Politisch-Relevante mit der eigenen Biographie zu verbinden sucht, wobei selbstverständlich die Literatur auch immer zumindest eine Nebenrolle spielt. Einzig die „zwei Erzählungen“ sind wirklich Erzählungen und hätten somit eigentlich in einem Essayband nichts zu suchen. Die Autorin hat sie jedoch bewusst in ihre Auswahl einbezogen, im ersten Fall („Goethe war übrigens Jungfrau“), um sie „endlich vom Geruch des Autobiographischen [zu] befreien“, weil sie da über ihre fiktive Tante schreibt, die sich exzessiv Astrologie begeistert; im zweiten Fall („Guten Abend, gut´ Nacht“) „aus reiner Sentimentalität“, weil es sich um ihre erste belletristische Veröffentlichung handelt.

In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Heinrich-Böll-Preises erklärt Eva Menasse, warum sie „Lieber aufgeregt als abgeklärt“ die Zeitläufte betrachtet und Stellung nimmt. Die trendige Politikverdrossenheit gerade vieler Intellektueller will sie, vor allem angesichts des politischen Vermächtnisses von Heinrich Böll, nicht unbescholten lassen. Die Medien sieht sie als Vervielfältiger jener unterkomplexen Schlussfolgerung, dass es aufgrund der hohen Komplexität der politischen Abläufe für den auf- bzw. abgeklärten Wähler nur noch die Geste der Verneinung geben könne. Man mache es sich viel zu einfach, wenn man sagt, dass die Wählerschaft ja doch keinen Einfluss mehr nehmen könne auf die politischen Entwicklungen des Landes. An dieser Stelle bläst Eva Menasse in dasselbe Horn wie der streitbare Stéphane Hessel („Empört Euch!“). Es gibt keine (politischen und gesellschaftlichen) Veränderungen ohne eine basisdemokratische Bewegung und die Einmischung der stillen Mehrheiten in der Gesellschaft.

Natürlich sind die globalisierten und überwiegend von neoliberalen Lobbyisten bestimmten Rahmenbedingungen der Wirtschaft das politische Leitsystem unserer Zeit. Und selbstverständlich führen diese Rahmenbedingungen zu sozialen Rahmungen und eingeschränkten Möglichkeitsfeldern, die das politische Handeln auf den jeweils geltenden Diskurs beschränken. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu sprach seinerzeit von „inkorporierten“, verinnerlichten Handlungsweisen, die ein Hinausdenken über den gesellschaftlichen Tellerrand zwar schwerer, jedoch nicht unmöglich machten. Wir können dies auch am Beispiel des eigenen Denkens und Sprechens erleben, wenn wir merken, wie die Sprache unser Denken beeinflusst und wie sehr unsere Sprache durch die Medien bestimmt und verstärkt wird.

„Was würde Heinrich Böll heute zur Lage in seinem Deutschland sagen?“ Diese Frage stellt Eva Menasse dem Publikum jener Preisverleihung. Eva Menasse ist sich sicher, er hätte Einiges zu sagen gehabt angesichts dieser seltsamen Politikmüdigkeit der Massen, die den eigenen Wohlstand als Selbstverständlichkeit ansehen und nicht als ein weltweit einzigartiges Privileg; die angesichts des Syrienkonflikts, in dem täglich Tausende fliehen und Hunderte sterben, nur mit den Schultern zucken und zuschauen. Dieses Prinzip der Nicht-Einmischung und des Wegschauens, das Prinzip der politischen Passivität breiter Massen unserer Bevölkerung, darf nach Meinung der Autorin nicht das letzte Wort sein.

Besonders das apolitische Verhalten der meisten Schriftsteller regt Eva Menasse auf. Dieser freigewählte Verzicht auf eine eigene politische Meinung und die freiwillige Selbstkontrolle deutscher Autoren ist ihr ein Dorn im Auge. Darf man überhaupt schweigen angesichts der vielen Probleme und Schieflagen in unserer Gesellschaft? Es ist die alte Frage danach, wer denn eigentlich die Gesellschaft (oder mit einem alten Begriff: das Volk) sei, wenn nicht wir alle. Die Entfremdung von Politik und Gesellschaft scheint die Wirkung einer Entwicklung zu sein, deren Ursachen im politischen System des Kapitalismus wurzeln.

Über den Schriftsteller schrieb Heinrich Böll einmal: „Er muss zu weit gehen um herauszufinden, wie weit er gehen kann.“ Diese Maxime Bölls hat sich auch einer der wenigen anderen streitbaren Schriftsteller zu Eigen gemacht: Günter Grass. Der jüngst verstorbene Grass war zeitlebens ein politischer Autor und einer, der sich nur allzu gern einmischte in die tagespolitischen Grabenkämpfe, um dort seine eindeutige Stellung zu beziehen.

Somit war nicht nur Böll, sondern auch Grass ein leuchtendes Vorbild für jene, die sich auch (und gerade) heute nicht von einer eigenen Meinung abbringen lassen und diese auch kundtun wollen. Doch politisches Engagement ist heute aus der Mode gekommen. Ihm haftet in Deutschland immer auch „etwas unsouverän Aufgeregtes an, als wäre so ein Engagierter ein überschäumendes Kind, das es leider noch nicht besser weiß“. In anderen Ländern ist das zum Glück anders, aber in Deutschland ist die Trennung von Literatur und Politik derart strikt, dass der kulturelle Graben zwischen der Kunst und dem politischen Engagement für viele unüberwindbar scheint, was umso trauriger ist, je dringlicher die gesellschaftlichen und politischen Fragen unserer Zeit werden.

Dieser Essayband liest sich leicht und ist in der Tat geeignet, dem politisch bewussten Leser wieder Mut zu machen, seine eigene Meinung auch in der Öffentlichkeit zu artikulieren und sich in die laufenden Debatten einzumischen. Vor allem aber bleibt zu hoffen, dass die lieben Kollegen des Literaturbetriebs durch Menasses Interventionen zu einem Denken und handeln zurückfinden, wie es für die Zeit Heinrich Bölls, für die Nachkriegsjahre in Deutschland bis in die 1980er Jahre hinein, üblich war.

Dies führte zu einem liberalen Klima der öffentlichen Debatte um politische und gesellschaftliche Themen auf der Suche nach einem demokratischen Konsens für eine offene Gesellschaft, die sich aus eigenem Antrieb weiterentwickeln kann und will. Alles andere wäre ein Rückschritt für unsere gesellschaftliche Entwicklung, die Rücknahme demokratischer Reformen sowie letzten Endes eine Unterwerfung unter die paternalistischen Strukturen der globalen Marktmechanismen.

Zurzeit ist jedoch „der aktuelle deutsche Diskurs in ritueller Höflichkeit erstarrt“. Keiner hängt sich weiter als nötig aus dem Fenster, niemand möchte der erste sein, der öffentlich wegen seiner Meinung an den Pranger gestellt wird. Diese neue Kultur des Anprangerns ist es auch, die die heutige Debatte von früher unterscheidet. Es gibt keinen Austausch der Meinungen mehr, sondern nur noch die mediale Verurteilung der abweichenden Meinung. Auf diese Weise ist kein Staat zu machen.

Neben den hochbrisanten politischen Reden und Beiträgen Menasses nehmen sich die literaturbezogenen Essays vergleichsweise friedlich aus. Doch selbst hier spürt man die Leidenschaft der Autorin für ihr Thema – eine Leidenschaft, die den Leser ansteckt. Ob es um Virginia Woolf, Alice Munro, F. Scott Fitzgerald oder Georg Kreisler geht: Immer steht da die Frage im Raum, was Literatur zu leisten vermag und welche Aufgaben der Schriftsteller hat. Dies sind natürlich gleichzeitig Fragen, die sich auch Eva Menasse selbst stellt. In ihren Essays finden wir interessante Antworten auf diese Fragen.

„Lieber aufgeregt als abgeklärt“ zeigt nicht nur, wie sich die Autorin Eva Menasse in den aktuellen politischen Diskurs einmischt; sondern dieser Essayband ist gleichzeitig ein Plädoyer für ein aktives politisches Bewusstsein, das sich an den neuen politischen Verhältnissen der Berliner Republik orientieren und an ihm wachsen muss. Die Schriftsteller müssen sich wieder aktiv einmischen und die gesellschaftliche Entwicklung nicht allein den Technokraten überlassen; es ist ihre Aufgabe, den schweigenden Massen, der stillen Mehrheit der Wahlverweigerer und Politikverdrossenen, eine Stimme zu geben.

Autor: Eva Menasse
Titel: „Lieber aufgeregt als abgeklärt. Essays“
Gebundene Ausgabe: 256 Seiten
Verlag: Kiepenheuer&Witsch
ISBN-10: 3462047299
ISBN-13: 978-3462047295

 

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