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Micaela Jary: „Das Bild der Erinnerung“

Am: | November 11, 2013

Im Jahre 2010 wird ein bislang als verschollen geltendes Bild des bekannten jüdischen Malers Leo Reichenstein zur Kunstauktion eingeliefert.

Die junge Kunsthistorikerin Anna Falkenberg wird damit beauftragt, eine Expertise zu erstellen, um die Provenienz des Gemäldes zu ergründen und seine Originalität zu bestätigen.

Doch so einfach diese Aufgabe klingt, so sehr bringt sie Annas Leben durcheinander – und am Ende wieder auf eine völlig neue und schöne Art und Weise zusammen. Die Suche nach den früheren Besitzern des Bildes und die Galeriestempel auf der Rückseite führen sie weit in die Vergangenheit zurück: bis in das Jahr 1946, in das Berlin der Nachkriegszeit. Dass die Suche nach der Herkunft des Bildes gleichzeitig zur Suche nach den eigenen familiären Wurzeln werden sollte, kann Anna nicht ahnen.

Micaela Jary wurde zu diesem Roman durch die Erinnerung und die Erzählungen ihres Vaters, des berühmten Film- und Schlagerkomponisten Michael Jary, angeregt. Er hatte die Nachkriegszeit in der zerbombten Reichshauptstadt unmittelbar erlebt und durch seine Erzählungen diesem Roman seiner Tochter eine Fülle an Details geliefert, die man nicht aus Geschichtsbüchern lernen kann. Auf diese Weise zeichnen sich gerade die Berliner Episoden dieses Romans durch eine große Lebendigkeit aus.

Wie sie in unserem kurzen Interview erzählte, wurde die Autorin zu diesem Buch durch einen Besuch im Berliner Alliiertenmuseum inspiriert, in dem ihre Tochter arbeitet. Die zahlreichen Ausstellungsstücke des Museums beflügelten zusammen mit den Erzählungen ihres Vaters die Phantasie der Autorin und wurden zur Initialzündung für dieses Buch.

Die Protagonisten dieser Nachkriegsepisoden sind die Kunsthistorikerin Grete Brahm, die mit der Sicherung und Rettung der Kunstschätze des Berliner Stadtschlosses beauftragt ist, der amerikanische Soldat Philip Coleman, sein britischer Kollege Henry Richardson, die amerikanische Reporterin und Majorin der US Army Rita Harris, der russische Oberst Uljanow, Gretes Nichte Felicitas – genannt Fee – und ihre Freundin Brigitte Wiese.

Wer die Romane von Micaela Jary kennt, weiß, dass sich daraus eine Vielzahl von Konstellationen, Verwicklungen und am Ende (meist) glücklichen Auflösungen stricken lassen, und so finden sich auch in dieser Geschichte die Richtigen zur richtigen Zeit, und am Ende wird (fast) alles gut.

Jedoch sollte man über diese heile Erzählwelt nicht die Nase rümpfen. Diese Autorin beugt sich eben nicht dem Negativitätsdiktat der zeitgenössischen Literatur, und trotzdem gelingt es ihr mühelos, sich dem Generalverdacht der Oberflächlichkeit von Unterhaltungsliteratur zu entziehen. Dieser Roman ist weder oberflächlich noch belanglos, sondern er erzählt einfach eine spannende Geschichte, die gut geschrieben ist und gut ausgeht. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger!

Die zweite Plotlinie des Romans spielt in der Gegenwart in Berlin, München, London und Cornwall. Wer bei Cornwall an die Geschichten von Rosamunde Pilcher denkt und Ähnliches erwartet wird nicht enttäuscht. Auch hier spielt die Handlung immer in der Nähe von schroffen Steilküsten, weißen Stränden, herrschaftlichen Cottages und den malerischen Fischerbooten von St Ives. Dennoch bewahren sowohl die zeitliche Rückverbindung mit den Berliner Nachkriegsjahren als auch die Ansiedlung der Handlung im internationalen Kunsthandel den Roman davor, in diesen Textpassagen ins Kitschige abzurutschen.

Apropos Kitsch: So detailreich und authentisch die Berliner Passagen und so spannend und abwechslungsreich die ganze Geschichte geschrieben ist, so sehr neigt die Autorin immer wieder zu stereotypen Darstellungen. So finden wir natürlich zum Beispiel im Berlin der Nachkriegszeit die charmanten Franzosen, die eleganten Briten sowie die trinkfreudigen Russen und die coolen amerikanischen Soldaten usf.

Doch diese Stereotypisierung soll der Autorin gar nicht zum Vorwurf gemacht werden, denn alle handlungsrelevanten Figuren sind mit realistisch wirkenden Charakteren ausgestattet. Wenn auf die Nebenfiguren und das Setting weniger Mühe verwendet wurde, ist das aus Autorensicht nicht nur ökonomisch und legitim, sondern erleichtert obendrein dem Leser die Lektüre dieses spannenden Buches.

Kann man also „Das Bild der Erinnerung“ empfehlen? Ja, unbedingt. – Warum? Weil der Autorin hier eine überzeugende atomsphärische Darstellung des Über-Lebens in der zerstörten ehemaligen Reichshauptstadt während der unmittelbaren Nachkriegszeit gelungen ist und weil der Leser durch die Lektüre nicht nur einen leichten Zugang zu jener Zeit des Fraternisierungsverbots und der „Frolleins“ bekommt, sondern gleichzeitig mit den Themen Beutekunst, jüdische Emigration und internationaler Kunsthandel konfrontiert wird.

Wenn dann noch die komplexen familiären Verbindungen der Figuren offen gelegt werden und die Geschichte jede Menge Liebe thematisiert, von leidenschaftlicher bis zu platonischer Liebe, von lebenslanger Treue bis zu prickelnder Erotik – ja, was will man mehr?!

Micaela Jary kann sehr gut schreiben, und sie tut das auch in ihrem neuen historischen Roman „Das Bild der Erinnerung“ in gewohnt professioneller Weise. Er erzählt eine aktuelle Geschichte aus dem Kunstmilieu, deren Spuren weit zurück bis in die verwirrende Vergangenheit kurz nach Kriegsende reichen, und verbindet sie mit mehreren Liebes- und Familiengeschichten. Besser „geht“ unterhaltsame Belletristik nur selten…

Der Roman liest sich wie ein abendfüllender Spielfilm in Farbe, und vor dem geistigen Auge des Lesers entfaltet sich eine faszinierende Welt voller verblüffender Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Verbindungen. Die Lektüre ist ein Vergnügen, und schnell hat man die über 400 Seiten des Taschenbuchs hinter sich gelassen. Doch die Geschichten um „Das Liebesspiel“ werden einen noch lange begleiten.

 


Lesen Sie auch unser Kurzinterview mit Micaela Jary zu Ihrem Buch „Das Bild der Erinnerung“!


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Autor: Micaela Jary
Titel: „Das Bild der Erinnerung“
Taschenbuch: 416 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag
ISBN-10: 3442478855
ISBN-13: 978-3442478859

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