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Silvio Vietta: „Rationalität – Eine Weltgeschichte“

Am: | Mai 23, 2012

Es ist ein Meisterwerk, ein ganz großer Wurf. Silvio Vietta hat eine Weltgeschichte der Rationalität geschrieben. Die Rationalität als Motor der abendländischen Kultur wurde bereits zwischen dem 8. und 6. Jahrhundert v. Chr. zum logischen Zentrum des menschlichen Denkens. Bereits in jener Zeit nahm der Streit zwischen Rationalismus und Empirismus um den Vorrang bei der menschlichen Erkenntnis ihren Anfang.

Rationalität und Ratio als Verstand und Vernunftdenken (dianoia und nous) im Gegensatz zur sinnlichen Erfahrung (aisthesis) – seit jener Zeit dichotomisieren wir den Weg zur Erkenntnis auf diese Weise. Damals nahm mit der Begründung der Wissenschaften, der Geometrisierung des Raumes, der Berechnung der Zeit und der Organisation des Politischen der Siegeszug der Rationalität als verstandesmäßiges Denken und als Mittel der „Berechenbarkeit“ ihren Anfang.

Dieser Erfolg der Rationalität als Instrumentalisierung des rationalen Denkens sucht in der Kulturgeschichte Europas seinesgleichen. Und doch sind dem rein rationalen Denken und Handeln sichtbare Grenzen gesetzt. Die menschliche Disposition als sinnlich wahrnehmendes Wesen wird durch eine reine Rationalität ignoriert.

Dementsprechend plädiert Vietta am Ende seines Werkes für eine aisthetisch-fundierte Rationalität als Basis einer neuen Anthropologie. Nur wenn es gelingt, die Sinnlichkeit (sinnliche Wahrnehmung) wieder als Grundlage und Ausgangspunkt der Rationalität zu etablieren und die Ratio durch die sinnlichen Erfahrungsanteile zu bereichern, wird die Rationalität als okzidentales Erfolgsmodell auch in einer globalisierten Welt reüssieren.

Der Untertitel von Viettas Werk, „Europäische Kulturgeschichte und Globalisierung“, deutet den expansiven Charakter des okzidentalen Rationalität an. Die Geschichte des europäischen Kolonialismus zeigt, wie das rationale Denken auch zu einem Exportartikel wurde und den kolonialisierten Völkern die Rationalität als Denkmodell oktroyierte.

Anders als zur Kolonialzeit müsse man heute versuchen, die Rationalität nicht mehr als ein auf dem reinen Verstand basierendes und kühl berechnendes System zu betrachten; vielmehr sollte die Rationalität in ein die aisthetischen Anlagen des Menschen als ein mit Sinnen ausgestattetes Wesen respektierendes und integrierendes Denken transformiert werden, das die aisthetischen Anteile unserer Wahrnehmung in ihrem Wert begreift.

Silvio Vietta ist Literaturwissenschaftler und Professor em. an der Universität Hildesheim. Seine Forschungen konzentrieren sich auf deutsche Literatur, Philosophie und Europäische Kulturgeschichte. Zu vielen Themen aus diesen Bereichen veröffentlichte er Bücher, u.a. auch zu Heidegger und Gadamer, die er beide persönlich kannte. Vietta ist Jahrgang 1941 und lebt in Hildesheim, wo er als emeritierter Professor für Literaturwissenschaft auch heute noch lehrt.

Sein Buch über die Weltgeschichte der „Rationalität“ ist auch für den interessierten Laien gut verständlich und dank der (in Philosophie-Büchern normalerweise eher unüblichen) zahlreichen Illustrationen auch sehr anschaulich. Viettas Buch ist eine Kulturgeschichte des okzidentalen Denkens, die es in dieser Form noch nicht gab. Es ist ein grundlegendes Werk, ein Standardwerk zu den philosophischen Grundlagen der abendländischen Kultur.

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Autor: Silvio Vietta
Titel: „Rationalität – Eine Weltgeschichte“
Gebundene Ausgabe: 412 Seiten
Verlag: Wilhelm Fink
ISBN-10: 3770553314
ISBN-13: 978-3770553310

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