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Renate von Mangoldt: „Nachtrag zur S-Bahn“

Am: | August 5, 2011

Während in diesen Tagen vor fünfzig Jahren die Berliner Mauer geplant und gebaut wurde und somit den Ostteil der Stadt vom Westen abtrennte, so fuhr die Berliner S-Bahn weiterhin durch West-Berliner Gebiet. Als ein von der Deutschen Reichsbahn unter DDR-Verwaltung geführtes Nahverkehrsunternehmen wurde die S-Bahn in den heißen Zeiten des Kalten Krieges immer wieder zur Zielscheibe westlicher Aggressionen und Polemik.

Andererseits diente die S-Bahn der DDR-Regierung zur Einnahme von Devisen und wurde als ein nicht unbedeutender Teil der West-Berliner Infrastruktur zugleich zu einem Ein- und Ausstiegsweg für die Mitarbeiter der Staatssicherheit.

Wie marode die S-Bahn-Anlagen und wie vergessen manche Bahnhöfe Anfang der 1980er im Berliner Westteil wirkten, zeigt ein schöner neuer Fotoband aus dem Steidl-Verlag: „Nachtrag zur S-Bahn“ von Renate von Mangoldt. Der Titelgeber für diesen Bildband ist kein Geringerer als Uwe Johnson, der 1970 für den Sender Freies Berlin (SFB, heute RBB) einen Beitrag für die Sendung „S-Bahn – Eine Berliner Collage“ schrieb. Der Text ist am Anfang dieses Buches abgedruckt.

1980 konnte man in der S-Bahn noch rauchen, man saß auf Holzbänken, konnte die Schiebefenster runter ziehen und den Fahrtwind genießen, und wenn es im Sommer zu heiß wurde, ließen sich sogar die Türen während der Fahrt öffnen. Es gab keine Stationsansagen, keine Werbevideos, keine Musikanten und keine größeren Unfälle. Heutzutage müssen die Türen bis zum Stillstand geschlossen bleiben, weil die Fahrgäste jahrzehntelang zur Unmündigkeit erzogen wurden und nicht mehr selbst entscheiden können, wann die Geschwindigkeit der Bahn gering genug ist, um gefahrlos abzuspringen.

Die meisten der in diesem schönen Band versammelten Fotos entstanden im September 1981 im Rahmen eines Fotoprojekts, dem Renate von Mangoldt damals den Arbeitstitel „Idee des Verschwindens“ gab. Aus heutiger Sicht betrachtet, wahrlich eine gute Idee, denn diese S-Bahn, wie wir sie hier wieder entdecken können, ist längst verschwunden.

Renate von Mangoldt wurde 1940 in Berlin geboren, lernte in den 1960er Jahren Fotografin an der Bayerischen Staatslehranstalt für Photographie in München und arbeitete von 1964 bis 2000 als Fotografin am Literaischen Colloquium Berlin (LCB).

„Nachtrag zur S-Bahn“ ist nicht nur für (West-)Berliner interessant, sondern vermag mit diesen eindrücklichen und kompositorisch ansprechenden Schwarzweiß-Fotos die ganz eigene Atmosphäre jener stillen Tage von West-Berlin herauf zu beschwören. Bilder aus einer längst vergangenen Zeit, die so nie mehr wieder kehren wird.

Autor: Renate von Mangoldt
Titel: „Nachtrag zur S-Bahn“
Gebundene Ausgabe: 128 Seiten
Verlag: Steidl
ISBN-10: 3869301902
ISBN-13: 978-3869301907

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