Clemens Niedenthal: „Nahaufnahme – Fotografierter Alltag in West-Berliner Flüchtlingslagern“
Am: | August 5, 2011
Vor 50 Jahren wurde die Berliner Mauer errichtet. Zuvor verließen Tausende von Menschen die DDR. Dieser massenhafte Exodus von qualifizierten Arbeitskräften hätte ohne diese Entscheidung das wirtschaftliche Ausbluten des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden beschleunigt.
Wer in Berlin die Mauer überwand oder zuvor als Flüchtling in den Westteil der Stadt gelangte, wurde in einem der bis zu 70 Aufnahmelager gebracht, bevor er seinen Weg in die Freiheit fortsetzen konnte.
Die Evangelische Flüchtlingsseelsorge, deren Diakonissen und Laienhelfer damals die ersten westlichen Ansprechpartner für die vielen Flüchtlinge waren, hat durch ihre fotografischen Arbeiten einen bislang unbeachteten Schatz gehütet, der mehr als 1000 Aufnahmen aus der zeit zwischen 1952-1962 aus den Flüchtlingslagern enthält.
Jetzt hat der Autor Clemens Niedenthal diesen Schatz gehoben und zusammen mit eigenen Begleittexten in seinem Buch „Nahaufnahme“ veröffentlicht.
Die meisten Flüchtlinge kamen mit wenig Gepäck. So wurden in den Aufnahmelagern die elementarsten Dinge zu einer wichtigen Aufgabe. Wir sehen die Arbeit der Kleiderkammer und die Versorgung der Flüchtlinge mit passender neuer Kleidung. Die Kinder wurden unterrichtet, und die faktische Macht der West-Produkte machte auch vor den Zäunen der Lager keinen Halt. Die westdeutsche Presse wird nahezu verschlungen, alles scheint noch neu und besser und schöner als in der zurück gelassenen DDR.
Wenn man diese Bilder betrachtet, spürt man einerseits den Mangel und die Not, die seinerzeit auch im Westen nicht klein war. Die Nachkriegsjahre waren trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs auch im Westen keine leichten Jahre.
Dennoch sieht man fast nur lachende Menschen, die einen frisch belebten Optimismus ausstrahlen. Endlich im Westen! Nun kann es nur noch aufwärts gehen. So lässt sich wohl die Grundstimmung jener Flüchtlinge zusammen fassen, auch wenn nach dem Aufenthalt im Aufnahmelager nicht alle ihre vor allem wirtschaftlichen Träume erfüllen können.
„Nahaufnahme“ ist ein interessantes Buch, das hinter die Zäune der West-Berliner Aufnahmestelle Marienfelde blicken lässt und uns in eine Welt entführt, die heute so weit entfernt scheint wie der 13. August 1961, als die Berliner Mauer gebaut wurde.
Ein interessantes, ein wichtiges Buch – ein bislang fehlendes Dokument bundesdeutscher und West-Berliner Zeitgeschichte.
Autor: Clemens Niedenthal
Titel: „Nahaufnahme – Fotografierter Alltag in West-Berliner Flüchtlingslagern“
Broschiert: 100 Seiten
Verlag: Links
ISBN-10: 3861536218
ISBN-13: 978-3861536215
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